Sommerstueck
Zweiten Weltkriegs. Aber solche Geschichten, sagten wir uns, wenn wir abends beisammensaßen, vor dem Haus, mit Blick auf den Westhimmel, die Sonnenuntergänge, wenn wir Wein tranken – solche Geschichten muß man von Anfang an erzählen, und auch damit ist noch wenig getan. Man muß dazu erzählen, wie man selber sie erzählt bekam: Wann, unter welchen Umständen, von wem. Ich, sagte Irene, habe durch Frau Dobbertin von Frau Käthlins Schicksal gehört. Ja, hat sie zu mir gesagt, die Alma Käthlin, die hat auch ihr Päckchen zu tragen gehabt. Uns fiel ein, daß die alten Frauen der Gegend einmal alle zusammen jung gewesen waren. Irgendwie hatten wir alle davon gewußt, daß Frau Käthlin einst einen Toten geheiratet hatte. Eigentlich ausgesprochen hat es erst ihre Schwester, in ihrer Eigenschaft als Erbin.
Mit Frau Käthlins Tod hat der Sommer überhaupt angefangen. Das würden sie nicht vergessen, sagten Jan und Ellen: Wie sie vom Hauptdorf herübergefahren kamen – auf dem alten, zerfahrenen Sommerweg, an Asphalt war noch nicht zu denken gewesen – und wie ihnen lauter tiefschwarz gekleidete Gestalten entgegengekommen seien, unter ihnen Tante Wilma, strengenGesichts, hoch aufgerichtet auf ihrem Fahrrad. Wie sie Fritz Schependonk antrafen, im dicken dunklen Rock, schweißüberströmt, wie er sich einen riesigen Grabkranz quer über die Schulter schwang, weil er ihn auf seinem Motorrädchen nicht festmachen konnte. Aber wer denn um Himmels willen gestorben sei. Na, die Alma Käthlin doch! Wie sie es gar nicht glauben wollten. Frau Käthlin, die immer freundlich, immer hilfsbereit, niemals neugierig und immer zurückhaltend gewesen war, »in sich gezogen«, sagte Tante Wilma dazu. Frau Käthlin in ihrem Märchengarten vor dem Haus. Die uns alle mit Samenkapseln von ihrem Riesenmohn und ihren vielfarbigen Malven bedachte. Frau Käthlin auf ihrem Rohrdach, noch vier, fünf Wochen vor ihrem Tod, der Gedanke, daß das Sterben sie davon entbinden könnte, ihr Dach instand zu setzen, wäre ihr nicht gekommen. Die es jedermann verschwiegen hatte, daß man ihr bei der Operation vor drei Jahren eine Brust abgenommen hatte: solch ein Verschweigen war ihr zuzutrauen. Insgeheim prüften wir uns, ob wir es uns auch zutrauen würden. Frau Käthlin war verschlossen gewesen.
Fritz Schependonk führte die Abordnung von Frau Käthlins Erben an. Nicht in seinen Arbeitssachen, obwohl es Vormittag war, sondern in Weste und gesteiftem Hemd steuerte er an der Spitze des kleinen Zuges ihr Haus an, führte Schwester und Schwager von Frau Käthlin in Ellens Küche und ließ sich dann schweigsam mit seinem Bier am Küchentisch nieder. Die Schwester von Frau Käthlin trank in kleinen vornehmen Schlucken den Apfelsaft, den Ellen ihr hinstellte. Hätte doch aber wirklich nicht nötig getan. Herr Voß, der Schwager,ein kleines verschrumpeltes Männchen, steckte sich umständlich, weil sein dick verbundener linker Daumen ihn behinderte, ein Zigarillo an. Sind wir jetzt in einem italienischen Film, oder was? will Ellen gedacht haben. Es erschien Littelmary, herbeigeführt von ihrem untrüglichen Spürsinn für abenteuerliche Begebenheiten, und ließ sich auf Ellens Schoß nieder, während gerade Frau Voß haarsträubende Einzelheiten aus den letzten Lebenstagen ihrer Schwester preisgab, die sie selbst genüßlich »unerquicklich« nannte. Ob sie nicht rausgehen wollte, spielen, flüsterte Ellen Littelmary zu, da konnte die natürlich nur den Kopf schütteln. Sie hatte zu tun, alle Fragen zu speichern, die sie später eine nach der anderen vorbringen würde: Was ist ein Tropf? Wieso kann eine Krankenschwester vergessen, der Toten die Augen zuzudrücken?
Tja, sagte Herr Voß, so ist das eben mal. Ellen ergriff die Gelegenheit, sich nach seinem Daumen zu erkundigen und mußte erfahren, daß unter dem Verband gar kein Daumen mehr war. Das komme davon, sagte Frau Voß, wenn einer zwei linke Hände habe, und Fritz Schependonk versetzte zwischen zwei Schlucken: Ungeschicktes Fleisch muß weg. Und dann ging Frau Voß bei und erzählte alles, von Anfang an, wie es sich gehört, und das brauchte seine Zeit, denn sie griff weit zurück, in ihre und ihrer Schwester gemeinsame Kindheit in jenem Haus gegenüber, in dem Alma ja dann ihr ganzes Leben hatte verbringen sollen, ihre Schwester wüßte nicht, daß die je auch nur eine Nacht woanders geschlafen hätte. Und immer dieselbe Arbeit in Haus und Garten, bei der sie schon als Kind ihrer Mutter immer gerne
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