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Sommerstueck

Sommerstueck

Titel: Sommerstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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kannte sie alle, und sie benannte sie Jan, indem sie mit dem Zeigefinger von einem zum anderen wanderte, mit Namen, Verwandtschaftsgrad und Haupteigenschaft: anständig; arbeitsam; nichtsnutzig; fleißig; ein bißchen tülütütü; geizig. Der eine hatte das Seine zusammengehalten und vermehrt. Der andre hatte zwei linke Hände und eine faule Frau gehabt. Jene hatte in ihrer Jugend für schön gegolten, auch für hochfahrend. Und diese hier hatte, als sie auf Wunsch der Eltern den Rahmersohn hatte heiraten müssen, »schon alles hinter sich gehabt«. Was aber Tante Wilma ganz und gar nicht zu mißbilligen schien, im Gegenteil, und das steigerte Jans Vergnügen an ihr.
    Wußte Tante Wilma, daß die Büdnerstelle des Bauern Rahmer »unter Hitler« zum Erbhof erklärt worden war? Ja, gewiß doch, wo werd ich das nicht wissen. Da müßt es direkt noch eine Urkunde drüber geben. Freilich. Die hatte Herr Rahmer mit den anderen Papieren, die zum Haus gehörten, ordnungsgemäß an Jan übergeben. Ein Foto lag dabei, das wir das »Erbhofbild« nannten. Dieses Foto hatte man dem Antrag auf das Erbhofrecht an den Kreisbauernführer beifügen müssen, es war wohl, sagte Tante Wilma, wegen der arischen Abstammung oder wie sie das nannten. Es gab doch dann, sagte Tante Wilma, Steuervergünstigungen, wenn man Erbhofbauer war, un all son Schiet. Das Foto bezeugte, daß bei den Rahmers von »nordischem Blut« keine Rede sein konnte. Kleine, gedrungene Gestalten mit rundem Schädel, die, das muß gesagt werden, perplex und etwas dümmlich in die Kamera starrten. Vater, Mutter, Tochter, Sohn – dieser ein Pimpf in Jungvolkuniform, Hosenbeinlängebis zum Knie. Seltener als man denken würde, findet man die sogenannten »nordischen Langschädel« im Mecklenburgischen. Daß seine Urbevölkerung slawisch war, bezeugte ja auch der Name unseres Dorfes, dessen Stamm, so belehrte uns ein kundiger Mensch, in den slawischen Sprachen soviel wie »kehren, blasen« bedeutete. »Im Wind liegen« – das schien uns passend für dieses Dorf.
    Auch die zweite Urkunde, die Jan unter einem Berg Abfallpapier in der ehemaligen Scheune gefunden hatte, hob er auf. Sie war auf dem grauen, holzhaltigen Papier der Nachkriegsjahre gedruckt und von einer schlichten Grafik umrahmt: links ein säender, rechts ein pflügender Bauer, die über einen Acker schreiten, einer rot aufgehenden Sonne entgegen. »Auf Grund der Verordnung über die Bodenreform vom 5. September wird dem Bauern H. Rahmer 3,8 ha rechtskräftig zum persönlichen Eigentum übergeben.« Gestempelt vom Präsidenten des Landes Mecklenburg, unterschrieben vom Landrat. Den früheren Verlauf aller Grenzen zwischen den Ländereien der einzelnen Bauern kannte Tante Wilma noch auf den Meter genau. Die Jungen wissen nichts davon und wollen nichts davon wissen. Auch Platt wollen sie nicht mehr sprechen. So hat alles seine Vor- und seine Nachteile, über die man hin- und herreden kann, beim Frühstück vorm Haus, im Schattenstreifen, den um diese Zeit das Rohrdach noch wirft, während sie das schwarze Roggenbrot essen, das man nur hier noch bäckt. Das die Leute »Ziegenbrot« nennen, weil sie es ans Vieh verfüttern, und das die Verkäuferin im Konsum ihnen extra frisch von hinten holt: Sie wollen es ja wohl selber essen, nicht?
    Auch über Olga muß noch einmal gesprochen werden. Die hat Tante Wilma nun wirklich ganz genau gekannt, von klein auf. Die war nämlich gar nicht so blöd. Die war nämlich immer von allen die döllste. Die hat, fast noch als Kind, jeden, aber auch jeden Tanzboden unsicher gemacht, im Umkreis von zehn Kilometern. Die hat immer gewußt, wo die Musik spielte. Die konnte ihre Schwägerin einschließen und tun und machen, was sie wollte: Sonnabend abend trabte meine Olga zum Vergnügen, wie ein Pferd zur Futterkrippe. Da saß sie auf dem Platz neben der Tür, ließ sich von den Bauernburschen rumschwenken und juchzte – wers nicht selber gehört hat, glaubt es nicht. Und danach, das kam wie das Amen in der Kirche, hat sie sich von jedem, der wollte, in den Graben ziehen lassen. Aber nie, das sag ich Ihnen, nie hat die einen verraten, obwohl sie sie alle gekannt hat, mit Namen und Adresse. Ja, sagte Tante Wilma. Die hat ihrs gehabt.
    Die rote japanische Quitte jenseits der Straße paßte in unsere nüchterne Gegend wie der rotglühende Irrsinn in eine unauffällige Familie. Wie der gefiederte Essigstrauch, den sie im Vorgarten mitten auf den Rasen gesetzt hatten, zu Forsythie,

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