Sommerzeit
Augen und machte eine gereizte Handbewegung, ließ die Kamera auf dem Stativ stehen und streichelte eine Kuh, während Johan telefonierte. Der Anrufer war Max Grenfors, der Redaktionschef der Regionalnachrichten.
»Hast du schon gehört?«
»Nein, was denn? Ich bin mitten in einem Interview.«
»Ein Mann ist oben auf Fårö erschossen aufgefunden worden«, sagte Grenfors ungeduldig. »Gleich neben einem Campingplatz, Sudersand, du weißt sicher, wo das ist?«
»Natürlich. Wann ist das passiert?«
Während er telefonierte, ruhten Johans Blicke auf dem Gesicht des Bauern, das sich verdüstert hatte. Er wünschte sich sicher nichts so sehr, wie sich weiter über die Machthaber in Brüssel beklagen zu können.
»Er wurde heute Morgen im Meer beim Sudersander Badestrand entdeckt.«
»Woher weißt du, dass er nicht ertrunken ist?«
»Ich lese nur, was TT durchgibt. Die sagen, dass der Leichnam im Wasser lag, dass er aber mit mehreren Schüssen getötet worden ist.«
»O verdammt.«
»Lass also alles stehen und liegen und mach, dass du hinkommst. Ruf mich an, wenn du im Wagen sitzt. Ich halte dich dann unterwegs auf dem Laufenden.«
Johan nahm überstürzt Abschied von dem enttäuschten Bauern und erklärte, dass sie das Interview ein andermal fortsetzen würden.
Zum Glück waren sie bereits in Lärbro auf dem nördlichen Gotland, nicht weit von Fårösund entfernt. Pia Liljas Gesicht strahlte vor Aufregung, als sie das Gaspedal durchtrat und die Reifen in den Kurven aufkreischen ließ. Ihre schwarzen Haare standen wie immer nach allen Seiten ab. Die kräftig schwarz geschminkten Augen waren fest auf die Fahrbahn gerichtet.
»Herrlich«, rief sie. »Endlich passiert was!«
»Herrlich?« Johan sah sie an. »Dass ein Mensch erschossen worden ist?«
»Ach, du weißt schon, was ich meine. Natürlich nicht, aber es ist jedenfalls viel spannender, über einen Mord zu berichten, als über übellaunige Bauern.«
Pia fand es wunderbar, wenn es knallte und die Ereignisse sich überstürzten. Gotland war eigentlich zu klein für die nachrichtenhungrige Pia Lilja. Mit ihren fünfundzwanzig Jahren wollte sie hinaus in die Welt. Ihr Traum war es, einen Fernsehkorrespondenten ins Ausland zu begleiten, um über Kriege und Hungersnöte zu berichten.
Bisher galt sie als zu jung und unerfahren und würde sich bis auf weiteres mit eher alltäglichen Begebenheiten zufriedengeben müssen, den Auseinandersetzungen über eine neue Straße in Burgsvik und den Klagen der Schüler über die unzulängliche Schulkost in Hemse oder den lokalen Meisterschaften im Steinwurf.
Bei den Reportagen gelang ihr das Kunststück, spannende, abwechslungsreiche Bilder zu machen. Außerdem verfügte sie über ein absolut unwahrscheinliches Kontaktnetz. Ihre soziale Kompetenz war außerordentlich, und als die jüngste von sieben Geschwistern verteilte sich ihre umfangreiche Verwandtschaft über die ganze Insel. Sie kannte vermutlich die Hälfte aller Einwohner Gotlands.
Auf der Fähre von Fårösund sprach Johan erneut mit Grenfors, während er mit einem Ohr den Nachrichten im Lokalradio folgte und zugleich wie besessen Notizen machte. Die Nachricht war zehn Minuten zuvor von der Nachrichtenagentur TT bekanntgegeben worden. Die Medien waren immer vorsichtig, wenn Verdacht auf Selbstmord noch nicht offiziell ausgeschlossen worden war, aber ein Zeuge hatte die Leiche kurz gesehen und mit eigenen Augen die Schusswunden in Kopf und Bauch registriert. Der Zeuge war von einem Journalisten von Radio Gotland interviewt worden, der sich zufällig mit Ausrüstung und allem auf Fårö aufgehalten hatte. Die Polizei hatte bestätigt, dass der Verdacht auf ein Tötungsdelikt vorlag.
Die Überfahrt nach Fårö dauerte nur wenige Minuten. Der Himmel hatte sich aufgeklärt, und die Sonne ließ das Wasser glitzern. Die Straße nach Sudersand führte durch die karge Landschaft von Fårö. Johan und
Pia begegneten Fahrrädern, Wohnwagen und Autos mit Urlaubern.
Als sie die Feuerwehrabfahrt bei Sudersand erreicht hatten und in Richtung Campingplatz abbogen, sah Johan für einen Moment Emmas Gesicht vor sich. Wären sie nach rechts abgebogen, wären sie in Norsta Auren gelandet, an dem Strand, wo ihre Eltern wohnten.
Emma Winarve war Johans große Liebe. Oder zumindest war sie das gewesen. Sie hatten so viele wunderbare Tage in dem Haus am Meer verbracht, am Strand zwischen Skärsände und dem Leuchtturm von Fårö, hoch oben im Norden der Insel. Am schönsten
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