Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
aufmarschierten und stillstanden, in Reih und Glied, das muß doch Stunden gedauert haben. Und, das ging doch einfach nicht, während er da oben ins Mikrofon schrie, daß es ihm gelungen sei, das deutsche Volk zu«einen», da sich melden und sagen:«Herr Unterscharführer, ich muß mal!»?
Broder hat wieder mal zugeschlagen. Und diesmal hat er meine volle Zustimmung. Er ist schon jetzt gespannt, wer alles im Westen schuldig geworden ist:«Wir werden uns noch wundern, wie viele inoffizielle Repräsentanten die untergegangene DDR vor allem in der BRD hat.»Obwohl er es beanstandet, daß jeder Deutsche im Gespräch mit ihm darauf hinweist, wie gut er zu den Juden gewesen ist, kann er nicht darauf verzichten, jedesmal darauf hinzuweisen, daß seine Mutter, beispielsweise, im KZ gesessen hat.
2007: Die Sache ist versickert.
Nartum Fr 20. Dezember 1991
Stalins drohende Gebärde, dieses letzte Aufraffen, als er starb, Hitlers Gruseltod in der Reichskatakombe, während oben die SS-Leute nach Swingplatten tanzten.
Der«Sozialismus», wie die Kommunisten ihren Todestest nannten, um später noch einmal zum Todesschlag ausholen zu können, ging zugrunde wie ein Fahrradreifen, aus dem man die Luft herausläßt. In diesem Zusammenhang Honeckers letzte Tage, dies Flügelschlagen einer am Boden liegenden Krähe, zu erwähnen, ist zuviel der Ehre. Da kommt kein letztes großes Bild auf.
Ein Film über das Abschlachten von Singvögeln in Italien. Ich hatte ihn wohlweislich abgedreht. Frau Lee jedoch erzählte uns am Abendbrottisch, daß diese Vögelchen (200 Mio. pro Jahr) in den Netzen verhungern und verdursten.
Sie fand es nicht gut, daß ich bei den Czech-Eintragungen die schwierig zu schreibenden und schwierig zu lesenden Namen der polnischen und jüdischen Auschwitz-Häftlinge im einzelnen weglasse, auch ihre Tätowierungsnummern, und mich statt dessen summarisch ausdrücke, hielt mir das vor, obwohl ich eben selbst gesagt hatte, daß mir das so antastend vorkomme. In ihrem karierten, von wissenschaftlichen Hilfsarbeiten ruinierten Gehirn ist nicht Platz für dergleichen Skrupel.
Regen.
Die Zurichtung der«Echolot»-Texte hat etwas vom Dominospiel an sich.
Schnee! Aber was für welcher, der dümmste Schnee, den man sich denken kann. Zusammengeklebte faule Placken, die nur durch die Luft wirbeln, um auf der Erde sofort auftauen zu können. – Obwohl wir bei dieser Art Wetter«viel Öl sparen», wie gesagt wird, kann ich mich nicht darüber freuen.
Hildegard hat aus Rohmilch gefertigten Käse mitgebracht, den es nur zu Weihnachten gibt. Der kommt aus Frankreich. Die Milch wurde vorher nicht erhitzt, das sei das Besondere. Nun, wir werden sehen.
Warum nicht einfach fetten Quark mit Zwiebeln und Kümmel?
Zu Mittag machte ich mir zwei Spiegeleier. Sie gerieten mir etwas zu fett, weshalb ich danach zwei Schnäpse trinken mußte.
Brief von Kirsten. Er beginnt mit:«Halb, Ihr Lieben.»- Großes Rätselraten. Nach längerem Nachdenken:«Hallo, Ihr Lieben.»
Das hätte mein Vater 123 000mal zitiert.
1943, das war die Spielscharzeit. Hermann Engel, Neuhaus, Helmers, Fredy Förster, Kollege Haack, Otto Meine, Musiklehrer Kell. Von den Lehrern nichts fürs Leben. Man hat die Stunden gähnend abgesessen. Jahre. Es war ganz folgerichtig, daß ich mich dieser Bildungsanstalt 1944 entzog. Für immer.
Die schlauen Russen wollen Mitglied der NATO werden. Genscher mit gelbem Pullover, Baker mit lichtgrüner Krawatte.
Wettertante heute:«Das Wetter sitzt heute bei uns zwischen allen Stühlen.»
Spielshows gibt es jetzt.
Der neueste Schlager:
Du siehst so jung aus,
obwohl du über 39 bist …
Im TV: Ein Saaldiener nimmt den Wimpel der SU aus seiner Halterung, knüllt ihn zusammen und geht damit weg.
Ein blöder Ossi/Wessi-Film, ein Klischee nach dem andern.
Auch Bosnien/Herzegowina wollen selbständig sein. Damit wäre Kroatien gerettet. Man weiß nicht so richtig, was da unten los ist.
Die traurigen Russen wurden gezeigt, die nun in Estland als Besatzer bezeichnet werden und das Land verlassen. Sie tun mir leid, weil sie nicht weinerlich sind und das ganz tapfer tragen. Sie verstehen die Welt nicht mehr.
Nun, damals, als sie nach Estland kamen, haben sie ein bißchen zu wenig nachgedacht, sonst würden sie jetzt alles verstehen.
Aber, wie gesagt, sie sind nur traurig. Man weint ihnen keine Träne nach.
Jetzt wird ein großer Völkereintopf zusammengebraut. Früher war alles
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