Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
sie nicht.
In Leningrad schreien sie:«Freiheit!»- Tja, Gott, Freiheit? Konzelmann:«Wenn wir ganz ehrlich sind, waren wir doch damals froh, als Irak von den USA gegen Iran aufgerüstet wurde.»Die Kanonen von damals drehen sie jetzt einfach um.
Nach Tisch – ich hatte nicht schlafen können – kam ein sehr unangenehmes Ehepaar. Führten sich widerwärtig auf.
Karol Schneeweiß ist im Hubschrauber über die DDR geflogen, im Norden sei ja noch alles einigermaßen in Ordnung, aber in Sachsen...
Das sei noch gar nichts! sagte Hostnig. Er solle sich mal in der SU umsehen. Tausende von Erntemaschinen, in einem Tal, und alle kaputt.
Nartum Sa 2. Februar 1991
Ein wahrer Schreckenstraum!
Ich habe den Zug verpaßt, der um 7 Uhr fahren sollte, und versuche nun, mit dem Fahrrad loszukommen. Ehe ich ein Rad habe und eine Karte, ist eine weitere Stunde zerronnen. Und dann sehe ich auf der Karte, daß der Ort, in dem ich um 10 Uhr hätte lesen sollen, in Württemberg liegt. Ich hätte ihn also auch mit dem Zug nicht pünktlich erreicht.
23 Uhr – Eben gehe ich ins Bett und denke: Hoffentlich träumst du den Traum nicht weiter.
In Wirklichkeit habe ich noch nie einen Zug verpaßt. Wenn’s mir schon mal passiert wäre, hätte ich mich jetzt in meinem Traum wohl nicht so sehr erschreckt.
Im TV nur noch Saddam Hussein und nichts anderes. Die Ruhe, die er zur Schau stellt, kommt mir krankhaft vor, künstlich, vermutlich nimmt er Tabletten. Er grinst seine Leute an, und die grinsen zurück. Und alle sitzen frisch gebügelt um den Tisch herum: Wir machen das schon, wir warten nur noch ein Weilchen.
Angst, ob die Amerikaner nicht doch alles falsch gemacht haben? Irgendein verborgenes Watergate, das binnen kurz oder lang zum Vorschein kommt? Wir haben nun schon allerhand erlebt. Die jede Realität überwuchernde Propaganda. Wer die Siegesmeldungen der ersten Tage vergleicht mit dem, was jetzt so durch die Ritzen dringt?
Die Friedensfreunde sind inzwischen verstummt. Das hängt wohl mit Israel zusammen.
Ein Rätsel, wieso die Amerikaner den jetzigen Truppenaufmarsch der Iraker nicht vom Satelliten aus entdeckt haben. 17 Kilometer lange Kolonne von Panzerfahrzeugen in der Wüste? So was sieht man doch mit dem bloßen Auge? Staubwolken?
Der neue Wagen ist gestern gekommen, ein Passat-Kombi. Deshalb Kombi, damit wir die Selterswasserkisten bequemer transportieren können.
Nartum So 3. Februar 1991, sehr kalt
Ich habe mir mein altes Hörspiel«Umgang mit Größen»(Tonbandkassette) angehört: War erstaunt, wie frisch die Texte wirken.
Nartum Mo 4. Februar 1991
Eine Delegation des Bundestages ist nach Israel geflogen, Tante Süssmuth vorneweg. Sie wollen um gut Wetter bitten, vielleicht wegen des Giftgases, das die Iraker auf Israel abschießen wollen?
Vor einigen Tagen zeigten sie geflüchtete Kuwaitis in Luxushotels. Sogenannte Clans lümmeln sich da herum.
«Auch wenn es sich um Luxushotels handelt – die Kinder ertragen das schwer…», wird gesagt. – Mein Gott. Da denke ich doch an die Flüchtlinge 1945. – Über die darf man nicht reden, die sollen aus dem Mitleidsfaß keinen Schlag bekommen. Flüchtlinge«sind selber schuld», also nicht erwähnen.
Oldenburg: Prof. Peters kam, er macht mit einem Freund Kempowski-Gesellschaftsspiele, sie geben sich gegenseitig Rätsel auf, wo in welchem Buch die einzelnen Redensarten stehen:«Klare Sache, und damit hopp»? Diesmal wollte er mich um Rat fragen, ob er die Sprüche richtig rausgesucht hat.
Bin dabei,«Umgang»umzuarbeiten.
Den Hanser-Briefwechsel – soweit davon die Rede sein kann – eingearbeitet. Es ist bewegend zu sehen, wie ich den Text damals angeboten habe. Sauerbier ist gar kein Ausdruck. – Ich hatte mich im übrigen schon ab Juli’69 darauf eingestellt, daß ich Rowohlt verlassen muß.
2007: Wend Kässens vom NDR war so freundlich,«Umgang mit Größen»kürzlich zu senden. Und siehe da, sie waren frisch wie am ersten Tag.
Oldenburg: Manfred Dierks ist vor mir dran im selben Raum. Bisher bin ich ihm hier noch nie begegnet. Heute stürzte er heraus, als ich die Treppe hinaufstieg. Will er mir nicht begegnen? Warum? – Hat man sich was getan?
Es ist irre zu sehen, wie die Medienmaschinen durchdrehen, weil sie nicht gespeist werden. Man sieht immerfort dieselben Bilder. Auf die Information hin, daß wieder eine Rakete auf Tel Aviv niedergegangen ist, wird ein grüner nächtlicher Himmel gezeigt, mit
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