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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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arbeiteten in der Wochenschau mit beweglichen Pfeilen. Aber nur, solange es vorwärts ging. Später erfanden sie den Ausdruck«Absetzbewegungen».
    Alle sind gespannt, wie die Amerikaner es anstellen werden, die Nuß zu knacken. Saddams eiserne Garden sollen ja noch intakt sein. Man sieht riesige Flugzeugträger, Transporthubschrauber, mit Kriegsgerät behängte GIs. Und auf der anderen Seite Infanterieeinheiten der Iraker, durch die Wüste paradierend, schneidig. Wie die sich wohl vorkommen? Aber vielleicht helfen ihnen ja vaterländische Gedanken, wie den deutschen Soldaten 1939 auf der Berliner Siegesallee.

Nartum Sa 9. Februar 1991
     
    Tag der Werktätigen des Post- und Fernmeldewesens
    Karasek in RTL, er ist gegen die Betroffenheitsorgie, die hier bei uns um sich greift, und ich auch. Es hätte, sagt er, wahrhaftig Grund genug gegeben in den letzten Jahren, bei anderen Konflikten betroffen zu sein.
     
    Heute nachmittag kam ein Mann und gab mir einen Brief von sich. Haute gleich ab. Er habe sonst meine Bücher immer so gern gelesen, aber«Sirius»? Nee. Ich empfand diesen Akt als infam, der Mann hätte mir das doch auch sagen können? Und ohne Absender. Er habe den Brief eigentlich nur einstecken wollen. Das Buch hat er aber behalten. Was hat ihn geärgert? Zumindest hätte er Guten Tag sagen können. Die merkwürdige Menschheit.
    «Leiden an Deutschland», ja, so kann man es nennen.
    Im Augenblick reden sie seit Tagen in jeder Nachrichtensendung (ich höre sie stündlich) von dem bevorstehenden, nahe bevorstehenden Landangriff der Amerikaner. Ich habe den Eindruck, sie wollen die Fernsehzuschauer damit vollsabbeln, weil sie nichts anderes zu bieten haben. Die Amis halten natürlich dicht.
    Die arabische Expansion im Mittelalter. Die Plünderung der heiligen Stätten in Rom, lange vor den Kreuzzügen. Saddams Sündenregister, wahrscheinlich eine halbe Million Menschen umgebracht, ganze Landstriche sollen entvölkert sein. – Ich kann den Kerl mit seinem auf Falte gebügelten Khakihemd nicht mehr sehen. Diese zur Schau gestellte psychopathische Ruhe. Und seine Kumpels sitzen immer noch wie beim heiligen Abendmahl neben ihm, ebenfalls mit auf Falte gebügeltem Khakihemd, und lauschen seinen Weisheiten.
     
    Ich bekam heute aus Eschwege einen unglaublichen Schlesienbericht von 1945. Die verbliebenen Deutschen mußten unter Schlägen den jüdischen Friedhof mit den Händen umgraben.
    Habe den Eindruck, daß die Weltgeschichte 1989 einen Ruck gemacht hat, alles ändert sich. Der ganze Osten stürzt in den Abgrund. Die Ossis haben noch nicht kapiert, daß sie fürs erste gerettet sind.
    Die Beruhigung, die von der schweren Rüstung ausgeht, Zutrauen, daß uns nichts passieren kann.
    Sie ärgern sich, daß man ihnen die Meckerfahne aus dem Mund genommen hat.
     
    Hildegard sieht heute«Heldenplatz»von Bernhard, nun schon seit vier Stunden.
    Ich sehe eine Show, in der Kandidatenehepaare bei richtigen Antworten (die Fragen werden von glitzernden Pappherzen abgelesen) hydraulisch auf einem Wolkensitz in die Höhe gehoben werden. Bei falschen Antworten von oben in einen Kissenberg geworfen. Das Siegerpaar gewann eine Reise nach China! Um Gottes willen! Das stelle man sich vor. China! Wo die Leute überall hinqualstern und Hunde essen. Da sind die Sieger gleichzeitig Verlierer.
    Im anderen Programm die Abfahrtsläufe der Damen, um sage und schreibe Hundertstel Sekunden geht es. Daß keiner über so was lacht? Skilaufen und Schwimmen um die Wette. Curling – das ist auch so eine merkwürdige Sache. Bei dieser Sportart geht es um Millimeter. Etwas Langweiligeres kann man sich gar nicht vorstellen. Sport – was das überhaupt soll? Allenfalls Kutschenfahren, das gefällt selbst den Pferden, wenn sie so zu viert, sechst oder gar acht eine winzige Kutsche ziehen.
    In wieder einem anderen Programm halsbrecherische Skikunststücke. Die Leute schlagen Kobolz. Anschließend geben sie im Krankenhaus Interviews, und die Ärzte sagen, das kriegen sie schon wieder hin. Was sagt die sogenannte Volkswirtschaft dazu? Die hält’s Maul.
     
    In Litauen wird gewählt. Ich wünsche den Leutchen dort von Herzen alles Gute, obwohl sie, wie man hört, auf die Deutschen nicht gut zu sprechen sind. Alte Geschichten ziehen sich manchmal sehr lang hin. Montag beginnen im Baltikum ausgedehnte sowjetische Manöver. Solange Gorbatschow sich weigert, die drei Ländchen«in die Freiheit»zu entlassen …
    Von Flugzeugverlusten im Golfgebiet hört

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