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Somniferus

Somniferus

Titel: Somniferus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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zuckte resignierend die Achseln und
ließ das rätselhafte Bleiplättchen sinken. Sie legte
es vorsichtig zu den anderen, die sie ebenfalls genau in Augenschein
nahm, aber es ergaben sich keine weiteren Hinweise.
    »Wir müssen wohl davon ausgehen, dass die Statue des
Somniferus im Tempel zu Neumagen vollkommen zerstört wurde.
Vielleicht haben das dieselben Leute getan, die seinen Namen
überall entfernt haben«, sagte ich. »Aber auf dieser
Beschwörungstafel stand doch noch etwas anderes. Angeblich hat
der Gläubige den Gott noch an einem weiteren Ort
gesehen.«
    Lisa holte die kleine schwarze Tafel wieder hervor. »Ja, IN
MONTE IUDICIALI, was ich mit Gerichtsberg übersetzt
habe.«
    »Könnte es vielleicht etwas anderes heißen?«,
gab ich zu bedenken. Ich drehte mich verstohlen um, denn ich nahm
wieder diesen modrigen Geruch wahr. Die Neonröhren, die an
langen Stangen von der Decke herabhingen, vermochten nicht den ganzen
Raum zu erhellen, ja es schien mir, als würden die Schatten
immer fetter.
    »Mein Latein ist schon etwas eingerostet«, verteidigte
sich Lisa und setzte sich auf den Rest eines Grabsteines, auf dem
ebenfalls einige Inschriften getilgt worden waren.
    »Ob dieser Gerichtsberg weit von Neumagen entfernt
war?«, fragte ich mich halblaut. »Er wird sich bestimmt
nicht in direkter Nachbarschaft zum Neumagener Tempel befunden haben.
Vielleicht war er ja in der Eifel.«
    »Oder er lag in der anderen Richtung, im Hunsrück«,
mutmaßte Lisa. Sie rieb sich die Nase.
    Roch sie es auch? Ich wagte nicht, sie zu fragen. »Gibt es
denn irgendeinen dir bekannten Ort, der etwas mit einem Gericht oder
einem Gerichtsberg zu tun hat? Ich vermute, dass ein Berg gemeint
ist, auf dem Gericht gehalten wurde.«
    »Das ist doch sehr seltsam«, meinte Lisa. Sie sah mich
nicht direkt an; ihr Blick schweifte gehetzt in dem großen Raum
umher.
    »Was ist seltsam?«, fragte ich. Ich spürte, wie
sich die Atmosphäre in diesem unterirdischen Gewölbe
veränderte.
    »Die Römer haben nicht auf irgendwelchen Bergen zu
Gericht gesessen, sondern in ihren Städten. Das sieht mir mehr
nach einer Bezeichnung für eine germanische Gerichtsstätte
aus.«
    »Ein Thing?«
    »So etwas Ähnliches. Es gab noch eine andere Bezeichnung
dafür. Wenn ich mich nur daran erinnern könnte.«
    Da traf es mich wie ein Blitz. Das war die Erklärung! Ja, es
passte zusammen!
    Inzwischen war die Luft feucht und drückend geworden, wie vor
einem schrecklichen Gewitter. Fast glaubte ich bereits, an meinen
Fingerspitzen bläuliche Entladungen zu sehen. Natürlich war
es nur Einbildung. Aber ich bemerkte, wie auch Lisa auf meine Finger
starrte.
    »Was ist das?«, flüsterte sie.
    »Ich weiß es nicht«, wisperte ich zurück.
»Etwas kommt näher.«
    »Wir sollten von hier verschwinden«, sagte Lisa
gehetzt.
    Ich schaute auf meine Uhr. »Dr. Kuffel kommt erst in etwa
zwei Stunden. Bis dahin sind wir hier eingesperrt.«
    Lisa stand von dem Grabstein auf und wich zurück. Ich machte
einen Schritt auf sie zu. Sie streckte abwehrend die Hände nach
mir aus. »Was ist denn jetzt los?«, wollte ich wissen.
    »Du… komm nicht näher!« In ihrer Stimme
schwang Hysterie. Ich begriff sie nicht. Sie konnte doch nicht mich
meinen. Ich spürte, wie sich jedes einzelne Härchen in
meiner Haut aufrichtete. Dann warf ich einen raschen Blick hinter
mich.
    Da sah ich ihn.
    Den Schatten.
    Und ich selbst war es, der ihn warf. Er bewegte sich synchron mit
mir. Jetzt verstand ich Lisa. Aber sonst verstand ich nichts mehr.
Ich versuchte etwas zu sagen, doch statt meiner Stimme hörte ich
nur ein Zischeln und Raunen wie von einem launischen Wind, der durch
undichte Fenster fährt.
    Und dann hatte ich plötzlich den Eindruck, dass ich wuchs.
Dass mich etwas anfüllte. Dass ich anschwoll. Mein Blickwinkel
verlagerte sich. Ich schien dem Deckengewölbe entgegenzuschweben
und machte kurz unter den Neonröhren halt. Sah auf Lisa
hinunter. Sah auf den gewaltigen Raum hinunter. Auf all die vielen
Bruchstücke der Vergangenheit, die wie ein großes Puzzle
vor meinem Blick ausgebreitet lagen. Eine wahnsinnige Wut brandete in
mir hoch, verbunden mit einer atemnehmenden Verzweiflung und
Einsamkeit.
    Lisa schrie auf und verkroch sich hinter Mauertrümmern.
    Und dann begannen die Schmerzen. Das, was mich füllte,
verwandelte sich in flüssiges Feuer. Ich brach in rasendes
Kreischen aus, das die Grundfesten des mächtigen Gebäudes
erzittern ließ. Da hörte ich ein Schaben hinter mir.

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