Sonne über Wahi-Koura
Septembermorgens begleitete. Die Sonne malte ein bizarres Muster an die Zimmerdecke, wurde allmählich kräftiger und tauchte den Raum in rotgoldenes Licht.
Helena verspürte eine ungeduldige Vorfreude. Schon seit Kindertagen liebte sie den Herbst, der die Winzer für die Mühen des zurückliegenden Jahres belohnte und zugleich noch einmal all ihr Können forderte.
Zärtlich blickte sie zu ihrem noch schlafenden Ehemann, bevor sie in ihren Morgenmantel schlüpfte. Barfuß eilte sie zum Fenster und warf einen Blick auf den Garten, den sie nach der Hochzeit mit einigen exotischen Stauden versehen hatte - ein Andenken an ihre erste Begegnung im Kurpark. Tautropfen glitzerten auf dem Buchsbaum, der einen schmalen Kiesweg einfasste. Das Laub der Blutbuche, die das Zentrum des Gartens bildete, leuchtete rot. Unter dem herbstlich verfärbten Laub des Wilden Weins ragte die weiße Kuppel eines kleinen Pavillons empor.
Helena lächelte glücklich in sich hinein. Damals in Wiesbaden hätte sie nicht geglaubt, dass sie eines Tages mit Laurent vor den Altar treten würde. Doch nur drei Monate später, als die ersten Schneeflocken fielen, hatte er um ihre Hand angehalten.
Tante Sophie war überglücklich gewesen. Leider hatte sich ihr Lungenleiden derart verschlechtert, dass sie noch vor Helenas Hochzeit gestorben war.
Das junge Paar lebte auf Helenas Weingut. Obwohl auch Laurent aus einer Winzerfamilie stammte, zeigte er nur wenig Interesse für ihre Arbeit. Seine Leidenschaft galt ausschließlich der Fliegerei, und da Helena ihn über alles liebte, hatte sie nie versucht, ihn davon abzubringen.
Da siehst du mal, Tantchen, dachte sie so manches Mal, jetzt bin ich zwar verheiratet, arbeite aber noch immer und habe keine Zeit für Kaffeekränzchen und Empfänge. Und das gefällt mir so. Nur hätte ich gern früher ein Kind bekommen ...
Der Arzt hatte Helena zu Gelassenheit geraten. Es sei normal, dass manche Frauen erst zwei oder drei Jahre nach der Hochzeit schwanger würden. Da auch Laurent nicht beunruhigt wirkte und nicht darauf drängte, Vater zu werden, hatte Helena sich in ihrem neuen Leben als Ehefrau eingerichtet und genoss es.
Ein Scheppern riss Helena aus ihren Gedanken. Das Leben in der Küche war schon vor gut einer Stunde erwacht. Obwohl die Dienstmädchen sich bemühten, leise zu gehen, vernahm Helena in der Stille deutlich deren Schritte. Kaffeeduft waberte ins Zimmer.
Helena unterdrückte ein leichtes Unwohlsein. Seit Wochen war sie erschöpft und verspürte morgendliche Übelkeit. Zunächst hatte sie eine Magenverstimmung vermutet, aber dann hatten sich die Anzeichen verdichtet, dass sie endlich schwanger war. Am Vortag hatte ein Besuch beim Hausarzt ihr Gewissheit verschafft.
Ich muss Laurent unbedingt davon erzählen. Heute noch.
Als sich ihr Mann regte, wandte sie sich um. Mit seinem verwuschelten schwarzen Haar und den blauen Augen wirkte er noch immer so anziehend wie damals im Kurgarten.
»Du bist ja schon wach!« Gähnend stand er auf. »Kannst es wohl kaum noch erwarten, bis die Lese beginnt.«
»Das weißt du doch!« Sie lächelte versonnen und dachte: Und noch etwas kann ich kaum erwarten. Vielleicht sollte ich es ihm jetzt sagen ...
Laurent trat zu ihr und schloss sie in die Arme. Der Duft seiner Haut ließ sie wohlig erschaudern und weckte das Verlangen nach ihm.
Was wäre dabei, wenn wir uns wieder ins Bett zurückzögen und uns liebten?, überlegte Helena. Aber sie spürte deutlich seine Unruhe. Schon machte er sich los, gab ihr noch einen flüchtigen Kuss und verschwand im Badezimmer.
Auch für ihren Mann stand Großes bevor. Seit Tagen redete er von nichts anderem als von dem neuen Flugzeug, das sein Freund Béchereau baute. Die Fertigstellung war nur noch eine Frage von wenigen Tagen. Béchereau hatte Laurent versprochen, dass er den neuen Metallvogel als Erster fliegen dürfe. Helena sah dem mit Sorge entgegen, denn sie wusste ihren Mann lieber bei sich auf der Erde als in der Luft. Da sie ihn liebte und ahnte, wie viel ihm diese Premiere bedeutete, ließ sie sich jedoch nichts anmerken.
Beim Frühstück saß sie schweigsam gegenüber von Laurent, der sich der Morgenzeitung widmete, und drehte unruhig die Tasse in der Hand. Der Kaffee war bereits kalt, und die Rosinenwecke auf ihrem Teller hatte sie noch nicht angerührt.
Sie musste es ihm sagen, aber sie hatte das Gefühl, dass er mit seinen Gedanken ganz woanders war.
»Wie wär's, wenn wir nachher einen Spaziergang durch
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