Sonne über Wahi-Koura
Probe zu ernten, um ihren Reifegrad zu bestimmen, eilte sie zum Schuppen, wo die Lesebütten standen. Unterwegs hielt sie einen jungen Burschen an, der einen Holzkasten zum Kelterhaus trug. »Sind das die neuen Korken, Michael?«
»Ja, Frau de Villiers, sie sind gerade angekommen.« Er klappte den Deckel auf.
Die Korken lagen fein säuberlich sortiert in der Kiste. An den Längsseiten war bereits der Umriss einer Lilie, das Markenzeichen des Weingutes Lilienstein, eingebrannt.
Helena nahm einen Korken heraus und drehte ihn zwischen den Fingern.
Eine sehr gute Qualität. Acht Jahresringe, glatte Spiegel, wenig Poren. Die besten Korken seit Jahren. Zuversichtlich lächelnd legte sie den Korken zurück und ließ den Burschen ziehen.
»Guten Morgen, Frau de Villiers! Auf ein Wort!«
Helena wandte sich um. Aus dem Kelterhaus eilte ihr Kellermeister Ludwig Bergau mit einem Spaten in der Hand entgegen. Seine Miene wirkte besorgt.
»Guten Morgen, Herr Bergau! Ist das Wetter nicht herrlich?«
Bergau, ein hochgewachsener, kräftiger Mann Anfang fünfzig, räusperte sich, als habe er einen Frosch im Hals. »Es gibt da etwas, was Sie sich anschauen sollten.«
Helena stutzte. Was will er mit der Schaufel? »Worum geht es denn, Herr Bergau?«
»Das sollten wir besprechen, wenn wir oben sind. Ich will keine Pferde scheu machen, aber heute Morgen ist mir beim Rundgang etwas aufgefallen.«
Helena wurde unwohl zumute. Wenn Bergau besorgt war, dann sicher aus gutem Grund. Ist etwas mit den Rebstöcken? Einige von ihnen kümmerten ein wenig, aber das hatte sie bisher der Sommerhitze zugeschrieben. »Also gut, gehen wir!«
Nachdem sie den Gutshof hinter sich gelassen hatten, erklommen sie den Weinberg auf dem Südhang des Lahntals. Der unter ihnen gelegene Fluss glitzerte im Sonnenschein, der von keiner einzigen Wolke getrübt wurde. Ideales Flugwetter, ging Helena durch den Kopf, und in Gedanken schickte sie Laurent, der in diesen Minuten vermutlich in seine Maschine stieg, einen liebevollen Gruß.
Die Rebstöcke an dem Spalier, zu dem Bergau sie führte, boten einen äußerst traurigen Anblick. Besorgt betrachtete Helena die schlaffen, bräunlich verfärbten Blätter.
»Ich habe diese Stöcke schon eine Weile im Auge. Anfänglich habe ich genau wie Sie vermutet, dass die Hitze an dem Zustand schuld ist. Aber jetzt ist mir aufgefallen, dass auch andere Stöcke kränkeln. Vermutlich haben sie sich die Reblaus eingefangen.«
Bergau griff behutsam nach einer Traube und zog sie unter dem Laub hervor. Die Beeren waren bräunlich gelb und schrumpelig. »Sehen Sie? Die Pflanze verdurstet. Gallen habe ich an den Blättern zwar noch nicht entdeckt, doch das muss nichts heißen.«
Obwohl sie bisher von dieser Plage verschont geblieben waren, kannte Helena die Anzeichen von Reblausbefall. Ihr Vater hatte sie bereits als junges Mädchen in den komplizierten Fortpflanzungskreis dieses Schädlings eingeweiht. In diesem Zyklus gab es eine Phase, in der die Reblauseier, geschützt von netzartigen Gebilden, den Gallen, an den Unterseiten des Laubes hafteten. Das war ein sicheres Zeichen für den Befall mit Blattrebläusen, den harmloseren Vertretern dieser Art. Wurzelrebläuse waren wesentlich gefährlicher, denn deren Auftreten bemerkte man erst, wenn die Weinstöcke bereits nachhaltig geschädigt waren.
Helena presste die Lippen zusammen. Was soll ich nur tun? Die Reblausplage hat in Baden ganze Weinberge vernichtet. Wenn sich der Verdacht bewahrheitet ...
»Soll ich die Wurzeln freilegen?« Bergaus Stimme riss sie aus den Gedanken.
»Nehmen Sie den dort drüben!« Helena deutete auf einen besonders schwächlichen Stock.
Bergau setzte den Spaten an.
Erschaudernd verschränkte Helena die Arme vor der Brust. Bitte, lieber Gott, lass es nicht sein!, flehte sie still.
Ein Brummen am Himmel lenkte sie ab. Sie legte den Kopf in den Nacken und beschirmte die Augen mit der rechten Hand.
Laurent! Das Flugzeug war wirklich imposant. Die Spannweite der Flügel war enorm, der Rumpf glänzte silbrig. Der mächtige Propeller und die Räder blitzten in der Sonne. Leider flog es zu hoch, sodass Helena ihren Mann in der Führerkanzel nicht erkennen konnte. Dennoch winkte sie, als die Maschine mit ohrenbetäubendem Lärm über sie hinwegdonnerte. Dann wandte sie sich wieder dem Kellermeister zu, der seine Arbeit gerade beendete.
»Da haben wir sie.« Bergau strich Erdklumpen von den Wurzeln.
Helena schlug entsetzt die Hand vor den Mund, als sie
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