Sonne über Wahi-Koura
Eine Männerstimme schrie ihren Namen.
»Laurent«, stöhnte Helena leise, dann wurde alles schwarz.
»Laurent!« Die Finsternis wich. Langsam öffnete Helena die Augen. »Laurent, wo bist du?«
»Gott sei Dank, sie ist wach!«, flüsterte eine Frauenstimme. »Peter, hol den Herrn Doktor!« Wenig später schob sich das rundliche Gesicht ihrer Haushälterin Martha in ihr Blickfeld. »Frau de Villiers, bleiben Sie bitte ruhig! Es wird alles gut.«
»Wo ist mein Mann?« Helenas Stimme klang rau. »Was ist passiert? Warum liege ich im Bett?«
»Psst! Sie dürfen sich jetzt nicht aufregen.« Martha kämpfte mit ihrer Beherrschung, als sie ihr sanft die Schulter streichelte. »Denken Sie an Ihren Zustand!«
Vergeblich versuchte Martha, Helena davon abzuhalten, sich auf den Ellenbogen zu stützen. Helena mühte sich hoch und wollte sich aufsetzen, aber ein Schwindel zwang sie zurück in die Kissen.
Indes klappte eine Tür, und Schritte näherten sich. Karbolgeruch stach Helena in die Nase. Habe ich etwa das Kind verloren?, durchfuhr es sie.
»Gut, dass Sie kommen, Herr Doktor!« Martha entfernte sich vom Bett.
An ihre Stelle trat ein Mann mit Vollbart und ergrautem Haar, auf dessen Nase ein Zwicker saß. »Frau de Villiers, wie geht es Ihnen?«
Dr. Alois Mencken betreute Helenas Familie schon seit vielen Jahren und hatte ihr in der ersten Zeit nach dem Tod ihrer Eltern beigestanden.
»Bestens«, schwindelte Helena, denn ihr eigenes Wohlergehen war vorerst Nebensache für sie. »Ist etwas mit meinem Kind?«
Dr. Mencken erstarrte, dann schob er das Plumeau ein wenig beiseite und setzte sich auf die Bettkante. »Frau de Villiers, wie Sie wissen, bin ich Ihrer Familie seit vielen Jahren verbunden. Ich darf und kann Sie nicht belügen. In diesem Fall, hinsichtlich Ihres Zustands, würde ich es gern tun, aber ...« Er stockte.
Nun reden Sie schon!, dachte Helena, brachte aber keinen Ton hervor. Stattdessen füllten ihre Augen sich mit Tränen, denn eine unerklärliche Panik ergriff von ihr Besitz.
»Was ist los, Herr Doktor?«, fragte sie zitternd.
Die Augen des Arztes glänzten feucht hinter den runden Brillengläsern. »Ihr Mann ist bei dem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Die Explosion hat ...«
Helena schnappte erschrocken nach Luft und schlug die Hand vor den Mund. Plötzlich war die Erinnerung wieder da. Die schwarze Rauchfahne, die dem Flugzeug folgte, als es auf den Hang zuraste. Der Knall, das Krachen, das Feuer.
Nein, das kann nicht sein! Sicher ist das nur ein böser Traum.
»Glücklicherweise hat Ihr Kind bei Ihrem Sturz offenbar keinen Schaden genommen«, fuhr der Arzt fort. »Und Ihre leichte Gehirnerschütterung und die Schürfwunden werden bald vergehen.«
Helena sagte nichts. Wie ein wildes Tier tobte die Trauer in ihr. Sie weigerte sich zu glauben, dass Laurent wirklich tot war. Sie starrte an Mencken vorbei ins Leere.
»Es tut mir furchtbar leid«, fügte der Arzt hinzu. »Sie können sich auf meine Hilfe verlassen; ich werde für Sie tun, was ich kann.«
Bei diesen Worten barst etwas in Helena. Klagend wälzte sie sich zur Seite, zog die Knie an den Bauch und drückte ihr Gesicht ins Kissen.
Während sie hemmungslos weinte, wachte der Arzt wortlos neben ihr. Irgendwann legte er eine Hand auf ihre bebende Schulter. »Bitte beruhigen Sie sich wieder, Frau de Villiers. Denken Sie an Ihr Kind! Ihr Gatte hätte gewollt, dass es gesund auf die Welt kommt.«
»Er wusste es nicht einmal«, schluchzte Helena gequält. »Ich dachte, die Nachricht würde ihn ablenken. Vielleicht wäre das alles nicht passiert, vielleicht wäre er nicht geflogen, wenn ich es ihm gesagt hätte. Hätte ich ihn bloß davon abgehalten zu fliegen!«
»Sie dürfen sich nicht die Schuld an dem Unglück geben, Frau de Villiers. Manche Dinge geschehen, egal, was man tut.«
Die Worte des Arztes prallten an ihr ab. Es ist meine Schuld! Ich hätte ihm von unserem Kind erzählen müssen!
Helena weinte so lange, bis sie erschöpft war. Nur vage vernahm sie die Stimme des Arztes, der Martha anwies, sie nicht aus den Augen zu lassen. Dann schlief sie endlich ein.
E RSTER T EIL
A NKUNFT
1
H AWKE ' S B AY , D EZEMBER 1913
Unter dem Tuten des Schiffshorns drängten die Passagiere der White Lily in Napier von Bord. Helena strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, während sie sich in der Menge treiben ließ. Die Meeresbrise, die am Matrosenkragen ihrer schwarzen Bluse zerrte, brachte nur wenig Erfrischung. Bereits
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