Sonne über Wahi-Koura
Berghänge richtete, knarzte es unter ihr plötzlich laut. Ein harter Ruck warf Helena nach vorn. Sie schrie auf und klammerte sich am Sitz fest, konnte aber nicht verhindern, dass sie den Halt verlor. Hart fiel sie auf die Knie und stieß sich einen Arm.
»Ho!«, rief Didier und sprang vom Kutschbock, sobald die Pferde standen. »Alles in Ordnung mit Ihnen, Madam? Sind Sie verletzt?« Vorsichtig half er Helena auf.
»Nein, nein, keine Sorge!«, antwortete sie. »Ich habe mir bloß den Arm gestoßen. Was ist passiert?«
»Ich werde gleich mal nachsehen. Vermutlich ist eine der alten Flickstellen am Hinterrad gebrochen. Sie sollten wohl besser aussteigen, damit ich den Schaden gleich beheben kann.«
»Können Sie das selbst reparieren?«
»Kein Problem. Ich hab mal ein paar Jahre als Stellmacher gearbeitet.«
Didier half Helena aus der Kutsche. Dann schälte er sich aus seiner Jacke und machte sich wortlos an einem der Räder zu schaffen.
Als der erste Schrecken verflogen war, setzte sich Helena auf einen großen Stein am Wegrand. Böse war sie über diese Unterbrechung nicht, denn jetzt hatte sie die Gelegenheit, sich das farbenprächtige Blütenplaid anzusehen, das die Hänge bedeckte. Zu gern hätte Helena die Namen all dieser Pflanzen gewusst, die in intensivem Rot, kühlem Blau und tiefem Gelb erstrahlten. Nun, die Erforschung der fernen Flora musste sie auf später verschieben, aber auch die Vegetation am Wegrand war interessant. Riesige Farne wogten in der sanften Brise. Durch das mit Blumen gesprenkelte Gras krochen seltsame Insekten. Helena nahm eines, das sowohl Ähnlichkeit mit einem gepanzerten Wurm als auch mit einer Heuschrecke hatte, auf die Hand und betrachtete es.
»Lassen Sie die lieber, wo sie ist, Madam!«, warnte der Kutscher sie. Offenbar hatte er sie aus dem Augenwinkel beobachtet. »Wenn man nur eine von diesen Schrecken auf sein Grundstück lässt, hat man bald Tausende von den Viechern. Weta sind sehr fruchtbar.«
»Weta?«
»So heißen sie. Nach dem Gott der hässlichen Dinge, den die Maori ›Wetapunga‹ nennen.«
Helena musste lachen. Sie fand das Insekt ganz und gar nicht hässlich - eher wehrhaft und stark. Sie betrachtete es noch eine Weile, bevor sie es auf den Boden setzte. »Ich hatte nicht vor, sie mitzunehmen. Ich wollte sie mir nur anschauen.«
Der Kutscher wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
Helena zog einen zerknitterten Brief aus ihrer Handtasche. In der schweren Zeit waren die Zeilen ihrer Schwiegermutter ihr einziger Rettungsanker gewesen.
Werte Madame de Villiers,
es betrübt mich sehr, vom Dahinscheiden meines Sohnes Laurent zu hören. Ich habe keine Kenntnis davon, ob Sie mit der Geschichte unserer Familie vertraut sind, aber da Sie mir schreiben, wird mein Sohn Ihnen von mir erzählt haben. Ich gebe zu, unser Verhältnis war nicht besonders gut. Wie Sie sicher wissen, setzte er mich von seiner Hochzeit mit Ihnen erst Monate später in Kenntnis und mied auch sonst jeden Kontakt zu mir. Unter den von Ihnen geschilderten Umständen bin ich jedoch bereit, Sie auf meinem Weingut aufzunehmen - des Kindes wegen. Geben Sie mir telegrafisch Bescheid, wann Sie in Napier ankommen, damit mein Kutscher Sie abholen und nach Wahi-Koura bringen kann.
Louise de Villiers
Helena faltete den Brief wieder zusammen. Zugegeben, er war nicht besonders freundlich formuliert. Außerdem war Louise de Villiers praktisch eine Fremde für sie. Laurent hatte kaum über seine Mutter geredet und stets gereizt reagiert, wenn er auf sie angesprochen wurde. Nach anfänglichem Streit hatte Helena das Thema deshalb ruhen lassen. Das bereute sie nun. Ich hätte mehr über sie herausfinden müssen, dachte sie. Dann wüsste ich, was mich erwartet.
Schwer seufzend verstaute sie den Brief wieder in der Tasche.
»Madam, die Kutsche ist wieder reisefertig.«
»Schon?«
»Es war nur ein kleiner Schaden. Aber jetzt ist alles wieder in Ordnung.«
Didier schnallte den Werkzeugkasten auf die Gepäckablage und half Helena einzusteigen.
Nach etwa einer Stunde Fahrt entlang eines breiten Flusses, den Didier Wairoa River nannte, tauchte auf einem grün bewachsenen Hügel ein aus sandfarbenen Steinen errichteter Herrensitz auf. Der Eingang wurde von vier hohen Säulen flankiert. In den Fenstern spiegelte sich das Sonnenlicht, und das rot gedeckte Dach schien zu glühen. Der Weinberg zog sich über einen großen Hang und reichte fast bis ans Flussufer. Für einen Moment fühlte sich Helena an die Lahn
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