Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dutli
Vom Netzwerk:
allen und jedem zu streiten, alles zerstört zurückzulassen, mit einem Zucken um die Wahnsinnslippen und einem kurzen lauten Auflachen abzuziehen. Dann erhängte sie sich an der Zimmerdecke, am Haken für die Lampe. Zwei Kofferschnüre hatten genügt. Und hinterließ keine Nachricht über ihre Gründe. Das geht euch nichts an.
Cela ne vous regarde pas
. Ihr Leben war schon lange davor zu Ende gegangen.
    Die Allierten lösen die Operation Overlord aus. Die Schlacht in der Normandie beginnt am 6. Juni 44, nicht einmal ein Jahr nach Soutines letzter Fahrt ins weiße Paradies und zum Friedhof Montparnasse. An den westlichen Stränden des Calvados, an den östlichen der Halbinsel Cotentin findet die Landung statt. Es ist der längste Tag. In jedem Leben gibt es einen längsten, für Soutine war es jener 6. August 43, als er im Leichenwagen versteckt in die Hauptstadt des Schmerzes fuhr. Am 19. August 44 rief das Pariser Befreiungskomitee die Bevölkerung zum Aufstand gegen die Besatzer auf, Paris wurde am 25. August 44 befreit, General de Gaulle hält seinen triumphalen Einzug. General Leclerc zieht mit Panzern von Süden her durch die Porte d’Orléans in die Stadt ein, bejubelt von den Massen. Er fährt an jenem Hotel an der Avenue d’Orléans vorbei, wo in der Nr. 25 der unsichtbare Maler im zugeknöpften Regenmantel schwitzend tagelang auf dem Bett gelegen und zur Decke gestarrt hatte, um den Ermittlungsbeamten zu entwischen, die ihn in der Villa Seurat suchten.
    Das Reichskommissariat Ostland zerfällt schon 1943, als die baltischen Länder Zug um Zug von der Roten Armee zurückerobert werden. Smilowitschis Einwohner sind längst von den Einsatzgruppen B massakriert. Das Minsker Ghetto wird am 21. Oktober 43 von Hauptscharführer Rübe liquidiert. Rübe? Die Bestie Rübe? Der. Von den fünfundsiebzigtausend Insassen ist keiner mehr übrig. Ausgetötet. Es gibt keinen mehr, den er zur Jama schicken könnte. Und Doktor Knochen? Wird schon bald Versicherungsvertreter. Lebensversicherungen? Gern. Sie wollen ihr Leben ruhig und unbehelligt leben. Nein, das hatte Soutines Seele nicht voraussehen können bei ihrem Flug über den Friedhof Montparnasse. Wo sind Solomon und Sarah, Jankel, Ertl, Nahuma und die andern?
    Es wert mir finster in di ojgen
, flüstert seine Seele.

Der Schmerz des Peruaners
    Die Wahl des Fahrzeugs trifft das Leben. Verwechslungen gehören zu seinen beliebtesten Manövern. Eine Ambulanz, ein Heuwagen, ein Gemüsetransporter, ein Leichenwagen oder auch nur eine Schubkarre, auf der eine zarte Madonna, die kleine Jeannette, von einem Straßenkehrer in die Rue de la Grande Chaumière geschoben wird – alle bringen das Leben ans Ziel. Es ist nicht wählerisch. Nur Bewegung will es, Bewegung braucht es wie ein Rauschmittel. Ein Gefährt sucht es, irgendeines. Mit Blaulicht oder Heuhalmen, die es hinter sich verstreut.
    Das Gefährt mag das falsche sein, die Richtung stimmt immer. Die Reise mag über schreckliche Umwege führen, das Ziel ist bekannt. Wie sagte Doktor Bog zu den heftig zupackenden Muskelmännern:
    Ihr wisst, wohin!
    Jede Fahrt führt zur finalen Operation, unaufhaltsam zum Schlussstück der Strecke. So wie Brieftauben in ihren Schlag heimkehren, fährt das Leben im zufällig zur Verfügung stehenden Fahrzeug zum längst nicht mehr geheimen Ziel. Nur zügig hin zur Toreinfahrt, die rotweiße Schranke hochgehoben und dann über die fatale Linie gerollt, nur hindurch und hinein. Es will ans Ende.
    Nehmen Sie Tschechow. Am 22. Juli 1904 stirbt er in Badenweiler, und sein erloschenes Leben sucht jetzt ein passendes Gefährt. Es verbündet sich mit Feinkost und Luxusprodukten, als hätte es ihn verhöhnen wollen, denn der perlige Überfluss der Reichen war Tschechow verhasst. Der gekühlte grüne Güterwaggon, der den Leichnam nach Moskau brachte, transportierte außer ihm Meeresfrüchte aus Frankreich. In großen Lettern stand darauf: FÜR AUSTERN. Da gleichzeitig der Sarg eines Generals aus der Mandschurei in Moskau ankommt, erklingt Militärmusik im Bahnhof. Die Leute wundern sich. Tschechow wird mit militärischem Pomp empfangen? Das Leben ist ein Missverständnis. Es arbeitet mit Verwechslungen. Ein anderer war gemeint. Es wählt manchmal das falsche Gefährt, manchmal die falsche Musik. Tschechow mochte keine Austern.
    Soutines Leben wählt den Leichenwagen für die Fahrt ins besetzte Paris. Da, nimm das weiße Laken. Deck dich zu. Spiel eine Leiche. Er selber hatte es in Wilna zu Kiko

Weitere Kostenlose Bücher