Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
allumfassenden Bebens gemalt hatte. Sie sah sich um und sah sie hinter sich fliegen: die Konditor- und Metzgerjungen, Kochlehrlinge, Pagen, Grooms, Chorknaben und Messdiener, die Erstkommunikantin, die Bauernkinder. Und auch der kleine Charlot hatte sich angeschlossen. Sie gaben seiner Seele das rebellische Geleit von Verschwörern.
Weit, weit unten sah er Doktor Bog seine Fäuste schütteln und ihm drohen. Seine Seele hörte ihn deutlich. Er schrie, er brüllte geradezu an den Himmel hinauf:
Ringsum wandeln Gottlose … während Gemeinheit emporkommt bei den Menschenkindern …
Doch Soutines Seele war sorglos und ließ sich von Drohungen und geballten Fäusten nicht einschüchtern. Es gab für sie kein Malverbot mehr, kein Flugverbot. Sie fühlte sich endlich frei. Ja, sie schien zu lachen. Soutines Seele lachte in einem hellen Rausch. Keiner am Montparnasse kann das glauben. Jeder hielt ihn dort noch immer und auf ewig für den unglücklichsten Maler. Die Erde aber war ein unermessliches, zurückgelassenes Magengeschwür.
Von weit oben erkannte seine Seele jetzt drei Männer, die zweifellos lebendig waren. Keine Begräbnisbruderchaft, keine Chewra Kaddischa. Sie hatten ihre schwarzen Hüte abgenommen, standen um Soutines Sarg herum. Seine Seele verlangsamte ihren Flug, zog eine schöne Kurve und fand sich einige Meter genau über dem Sarg ein.
Drei Männer also standen um ihn her. Pablo Picasso, Jean Cocteau, Max Jacob. Und Chaim Soutines Seele war freudig erregt, wie in einem leichten Rausch, ohne Exzess. Picasso stand da wie ein Sonnenkönig, das grelle Zentralgestirn, das alle andern zum Verblassen brachte. Dann ein Zwillingsbruder von Orpheus, Jean Cocteau, der Hitlers Bildhauerliebling – Soutines Seele konnte seinen Namen nicht aussprechen – im Mai 42 freundlich in Paris empfangen hatte, als die Vichy-Regierung ihm einen Staatsakt bescherte. Und jetzt soll er trauernd am Grab des Malers Soutine stehen? Sein Gewissen war ungehalten mit ihm, nachdem er mit irgendwelchen schwarzen Marionetten rauschende Feste gefeiert hatte. Auch der thrakische Sänger hatte mit dem Tod geschachert. Der schillernde Orpheus ließ seine Hüllen zurück auf dem Weg aus der Unterwelt. Er wollte ans Licht.
Und wer steht da noch, dem Grab Baudelaires schräg gegenüber, der bei seinem verhassten Stiefvater hausen muss, dem General Aupick? Der engelhafte Max Jacob, der nur ein paar Monate später, am 24. Februar 44, von der Gestapo in Saint-Benoît-sur-Loire, unweit von Orléans verhaftet wird, wo er sich im Kloster unter den Mönchen versteckt hält. Und zwei Wochen später – die Seele des Malers sah es zu ihrem Erschrecken voraus – im Lager Drancy, nordöstlich von Paris, auf den Abtransport nach Auschwitz wartend, an der Lungenentzündung sterben wird. Picasso fand es unnötig, sich für ihn zu verwenden.
Es gibt da nichts zu machen. Max ist ein Engel. Er braucht unsere Hilfe nicht, um dem Gefängnis zu entkommen.
Max hatte in der frühen Zeit im Bateau-Lavoir das Zimmer mit ihm geteilt und den Ankömmling aus Malaga durchgefüttert. Jetzt war der Sonnenkönig um sein Ansehen bemüht. In Drancy entschuldigte sich Max bei den andern Juden, dass er zu einem christlichen Gott betete. Mit vierzig hatte er sich taufen lassen, Picasso war sein Taufpate. Verzeihung, es ist keine Verwechslung, nur eine Frage der eigenen Geschichte. Dann starb er. Doch die Lungenentzündung, das weiß sein abwesender Sonnenkönig, war besser als die Fahrt im vollgepferchten Waggon zur Endstation an der Rampe in Polen.
Soutines über dem Friedhof Montparnasse kreisende Seele sieht sie dort unten Seite an Seite am Grab des Malers stehen, in dessen Körper sie bis vor kurzem gewohnt hat. Pablo, Jean und Max, der vor Glück berstende Sonnenkönig, der schillernde Orpheus und der arme Lungenjakob, der bald verlöschen wird.
Und zwei Frauen stehen am Grab, die Vorletzte und die Letzte. Sein Schutzengel aus Magdeburg, Gerda Groth-Michaelis, die ihm wieder zu essen beibrachte, als er es längst aufgegeben hatte. Mademoiselle Garde! Wie bleich sie jetzt war. Sie hatte aus dem Lager Gurs entkommen können und hielt sich in Carcassonne versteckt. Den Maler hat sie seit ihrem Aufbruch in die Winterradrennbahn am 15. Mai 1940 nicht wiedergesehen. Als sie von Madeleine Castaing in Carcassonne erfährt, dass Soutine mit einer anderen Frau zusammenlebe, weint sie nicht. Sie müssen jetzt tapfer sein, Gerda. Sie lebte noch dreißig Jahre und setzte keinen
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