Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Fuß mehr auf deutschen Boden. Sie wird, Soutines Seele hörte es verwundert, in den Siebzigern einem Journalisten ihre Erinnerungen in die Feder diktieren. Gerda! Mademoiselle Garde!
Marie-Berthe Aurenche wird dann schon dreizehn Jahre nicht mehr unter den Lebenden sein. Die entlassene Muse der Surrealisten, die Ex-Frau von Dadamax, Soutines unglückliche Begleiterin, die Verstecke gesucht und den endlosen Transport nach Paris beschlossen hatte. Siebzehn Jahre nach jenem Augusttag, 1960, wird sie sich das Leben nehmen, nicht so legendenschön wie Modiglianis Muse, die zarte Jeanne Hébuterne, die aus dem Fenster gesegelt war, um nie mehr auf dem dunklen Asphalt aufzuprallen. Marie-Berthe wird zu Chaim Soutine ins selbe Grab gelegt werden, sie wollte es so. Wie sie schon im Leichenwagen den verfluchten Weg von Chinon nach Paris zu zweit auf sich genommen hatten.
Unvergesslich bleibt Elenis Anruf mitten in der Nacht, weil sie wütend war über das Bild, das sich alle von Marie-Berthe machten. Was ist, wenn irgendwann ein Schreiben auftaucht, in dem die Ärzte in Chinon ihre Kollegen in Paris darüber unterrichten, dass sie die Operation nicht riskieren wollen, weil sie zu spät käme, zu gefährlich wäre? Eine Art Überweisungsschein, in dem sie die Verantwortung für den Eingriff den Kollegen überlassen?
Nehmen wir an, sie hätten den Patienten einfach aufgegeben. Was blieb Marie-Berthe anderes übrig, als den letzten, verzweifelten Transport nach Paris zu wagen? Eleni schnaubte am Hörer:
All das Gerede vom störrischen Todesengel, von der taumelnden Frau, von falschen Entscheidungen. Eine reine Spekulation! Was hätte sie denn tun sollen? Ihm beim Sterben zusehen? Sie hat also über Bekannte in Paris mit einem Chirurgen der Lyautey-Klinik telephonisch Kontakt aufgenommen, der versprach, den Eingriff trotz aller Risiken zu wagen. Sie wollte doch nur, dass Soutines Leben eine allerletzte Chance bekam! Und entschied sich für den gefährlichen Transport.
In einem Zeitschriftenartikel von 1952 schreibt Marie-Berthe über Soutines letzte Jahre, und darin tatsächlich, dass die Ärzte in Chinon den Eingriff verweigert hätten. Und wenn das nur ein hilfloser Rechtfertigungsversuch gewesen wäre von jemandem, der sich schuldig fühlte für eine Entscheidung, die nicht die erwünschte Wirkung hatte, die nicht zur Rettung führte? Klüger ist man immer nachher.
Keinerlei Einwände, dass sie hätten aufgegriffen werden können, dass der Weg des Malers dann nach Drancy und in den Osten geführt hätte, ließ Eleni gelten. Ohne die zermürbend lange Irrfahrt wäre der Maler in einem Klinikbett in Chinon verstorben, der Mohnsaft hätte ihn wegdämmern lassen. Keine peinigende, angstvolle, viel zu lange letzte Fahrt …
Eleni blieb unversöhnlich:
Du weißt eben nicht, wozu eine liebende Frau fähig ist! Sie hat nur diese eine, letzte Chance gesehen.
Eleni hängte auf.
Marie-Berthe wird noch den Taumel der Befreiung ihrer Stadt erleben, fast genau ein Jahr nach dem Begräbnis, am 25. August 44, einem anderen, diesmal glücklichen Augusttag. Aber ihr Leben wird allmählich zerfallen. Die großen Maler waren nicht mehr da, Dadamax war längst für sie gestorben, auch wenn er sie um sechzehn Jahre überleben sollte. Montparnasse bedeutete trotz des Jubels der Befreiung nur noch einen Abglanz der früheren Erregung.
Sie trug ein irres Lächeln durch die Straßen und weißblond gebleichtes Haar. Thea sagt, sie sehe jetzt aus wie eine der tausend banalen Huren. Man warf ihr vor, sich Soutines Bilder angeeignet und verhökert zu haben, aber sein unglückliches Töchterchen nicht zu unterstützen. Gegen alle, mit denen sie früher bekannt gewesen war, hegt sie nur noch Hass. Und wehe, einer erwähnte den Namen Max Ernst. Alle wandten sich ab, wenn sie auftauchte. Betrat sie das Zimmer, füllte der blanke Wahnsinn es bis in den letzten Winkel aus.
Schließlich sprach sie mit sich selber, schleuderte den Passanten plötzlich ihre konfusen Sätze ins Gesicht:
Ich bin an seinem Tod schuld! Wäre ich nicht eingeschlafen, wäre er nicht gestorben …
Und sie fragte die erstaunten Fußgänger:
Gibt es ein Weiterleben, gibt es ein Jenseits?
Keiner antwortete ihr, sie warfen sich nur spöttische Blicke zu. Und noch etwas sagte sie ihnen:
Ich will ins Kloster gehen!
Sie vereinsamte, wurde schrullig und böse, keifte und fauchte nur noch. Ihre irren Hände konnten nur zerreißen, nicht bewahren. Sie bewahrte nur ihre Art, mit
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