Souvenirs
Sees. Ich sagte mir, die letzten Lebensjahre eines Menschen sind immer schon vom Tod gezeichnet, der seinen Einflussbereich ausdehnt und sich so ankündigt. Ich bemerkte ihren fliehenden Blick. Sobald sie jedoch die Klingel hörte, stand sie auf, um mir zu öffnen. Sie sah mich und schenkte mir ein breites Lächeln. Ich trat ins Wohnzimmer, und sie eilte zum Kaffeekochen in die Küche. Nach dem, was ich die Minuten zuvor gesehen hatte, was sie ja nicht wusste, bot sich mir nun ein merkwürdiges Schauspiel. Sie führte für mich eine Komödie auf, in der sie ihr Leben spielte.
Wir setzten uns im Wohnzimmer einander gegenüber auf die beiden Kanapees. Freundlich lächelten wir uns an und hatten uns nichts zu sagen. Nach den ersten Fragen, wie der Tag war, was die Familie macht, nach dem Wie-geht’s-dir-so und dem Na-und-wie-geht’s-dir-so verfielen wir in ein Schweigen. Ich empfand das aber gar nicht als so störend. Mit meinem Großvater war es in den letzten Jahren auch so gewesen. Man verbringt Zeit mit ihnen, ist bei ihnen. Und das reicht, oder? Ich spielte den netten Enkelsohn, manchmal fielen mir ein oder zwei Anekdoten ein, mit denen ich ein paar Sekunden herausschinden konnte, den Boden des Schweigens abtrug. Aber ich unternahm keine künstlichen Anstrengungen. Das hier war kein gesellschaftliches Ereignis. An anderen Tagen, ich kann nicht wirklich sagen, wie eszustande kam, konnten wir ununterbrochen reden. Meine Großmutter war ganz die Alte, sprühte vor Energie und Leben. Meist ging es in diesen Unterhaltungen um Erinnerungen. Sie erzählte mir Geschichten aus ihrer Jugend, von meinem Großvater und auch von meinem Vater, was mich nicht sonderlich interessierte. Ich mochte es lieber, wenn sie vom Krieg sprach, von der ganz alltäglichen Niedertracht, da hörte ich ihr wie gebannt zu. Sie schilderte mir, wie das Leben unter deutscher Besatzung war. Manche Erlebnisse sind so einschneidend, dass man gar nicht wahrhaben will, dass sie nun der Vergangenheit angehören. Die über das Pflaster klappernden Stiefel der Wachposten gehören in diese Kategorie von Vergangenheit, die nie zu Ende geht. Ich spürte, dass meine Großmutter sie noch immer hört. Sie bleibt für immer dieses Mädchen, das sich in einem Keller versteckt hält und sich an ihre Mutter drückt, von der Angst und den Bombeneinschlägen zum Schweigen verurteilt. Sie bleibt dieses verschreckte Mädchen, das nicht weiß, was aus ihrem Vater geworden ist, und glaubt, sie sei jetzt vielleicht eine Waise …
… wenn ihr die Erinnerungslast zu schwer wurde, unterbrach sie sich äußerst dezent. Und sagte plötzlich zu mir: «Was ist überhaupt mit dir? Erzähl mir was von deinem Hotel.» Es gab nicht viel zu erzählen, doch ihre Art zu fragen verleitete mich dazu, Dinge zu erfinden. Möglicherweise wurde so mein Hang zum Fabulieren geboren. Normalerweise denkt man sich Geschichten eher für Kinder aus. Ich dachte mir für meine Großmutter Geschichten aus. Vonunvorhergesehenen Ereignissen im Hotel, von ausgefallenen Gästen, von zwei Rumänen mit drei Koffern, und allmählich fing ich an, selbst daran zu glauben, daran zu glauben, dass ich ein aufregendes Leben führte. Ich ließ meine Großmutter allein und ging in mein Hotel, wo mich die stille Wirklichkeit erwartete.
6
Erinnerungen meiner Großmutter
Es dauerte eine Weile, bis der Rest der Welt die Folgen des US-Börsenkrachs von 1929 zu spüren bekam. Erst 1931 entschieden die Vereinigten Staaten, ihr Investitionskapital aus Europa abzuziehen. Dieser Beschluss bedeutete für das Leben meiner Großmutter eine einschneidende Veränderung. Sie wohnte damals in der Normandie, in einem kleinen Dorf in der Nähe von Étretat. Ihre Eltern betrieben ein Eisenwarengeschäft (sie spielte daher oft mit Nägeln). In der Krise sah ein jeder zu, dass er irgendwie über die Runden kam, und versuchte, umsonst zu kriegen, wofür er davor bezahlt hatte. Alle Ausgaben wurden radikal gekürzt. Ich habe kürzlich einige Fotos dieser schweren Zeit gesehen, die der gesellschaftliche Prolog dessen war, was sich zehn Jahre darauf abspielen sollte, als endlos lange Schlangen vor den Essensausgaben für Bedürftige anstanden. Am schwersten traf die Krise die Kaufleute. Die Eltern meiner Großmutter trotzten der Lage so lange es ging,ließen pro Tag eine Mahlzeit aus, wechselten die Kleider nicht mehr, doch die Schlinge zog sich immer enger zusammen, bis sie ihr Geschäft schließlich zumachen mussten. Um zu
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