Souvenirs
aus, wie er eben kann. Konnte ich ahnen, dass er, wenn er nach Hause kam, einer kaltherzigen Frau ausgesetzt war? Er öffnete die Tür zum Schlafzimmer, zögerte einen Augenblick, bevor er sich lautlos auf die Bettkante setzte. Wie konnte ich ahnen, dass er ihr dann zartfühlend durchs Haar strich? Aber keine Chance, sie schlief weiter. Seine Annäherungsversuche blieben in einer libidinösen Sackgasse stecken.
Bevor ich in die Métro stieg, vertrat ich mir am Morgen gern ein wenig die Beine. Die afrikanischen Fabrikarbeiter, die mir über den Weg liefen, mussten mich für einen dieser wohlhabenden jungen Hüpfer halten, die im Morgengrauen aus der Disco kamen. Bis weit in den Nachmittag hinein schlief ich. Nach dem Aufwachen las ich mir die in der Nacht gemachten Aufzeichnungen durch und empfand diese Bruchstücke meiner Armseligkeit als niederschmetternd. Wenige Stunden zuvor hatte ich doch noch an mich geglaubt und gedacht, ich stünde an einem verheißungsvollen Romanbeginn. Eine Mütze Schlaf konnte das Licht, in dem eine Idee erschien, erheblich verändern. Haben alle, die schreiben, dieses Gefühl? Das der Macht, das dem der Ohnmacht vorausgeht? Ich kam mir kläglich vor, ein Nichts, ich wollte sterben. Doch der Gedanke daran zu sterben, ohne auch nur einen ersten brauchbaren Entwurf hinterlassen zu haben, kam mir schlimmer vor als der Tod. Ich fragte mich, wie lange das so weitergehen sollte, wie lange ich meine Hoffnungen darauf setzen würde, dass es mir gelingen würde, meine Gedanken in klare Worte zu fassen. Vielleicht würde es mir ja nie gelingen, dann musste ich eben einen anderen Weg einschlagen, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. An schlechten Tagen stellte ich Listen der Berufe auf, die für mich infrage kamen. Eine Stunde später hatte ich Folgendes zu Papier gebracht: Verleger, Französischlehrer, Literaturkritiker.
4
Erinnerungen von Patrick Modiano
Die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs zieht sich durch einen Großteil des Werks von Patrick Modiano. Modiano hat die seltsame Vorstellung, diese Zeit miterlebt zu haben, obwohl er erst 1945 geboren wurde. Seine Besessenheit von Fakten, Namen, Plätzen oder auch Zugfahrplänen rückt seine Schriften in die Nähe einer in die Vergangenheit verlegten Autobiografie; vielleicht kann man sogar so weit gehen und von vorgeburtlichen Memoiren sprechen. Das 1977 veröffentlichte
Familienstammbuch
zählt zu seinen persönlichsten Büchern. Ihm ist diese wunderschöne Verszeile von René Char vorangestellt: «Leben heißt, beharrlich einer Erinnerung nachzuspüren.
»
Es ist vor allem dieser Satz, der mir ein Schlüssel zu seinem Werk zu sein scheint, der mich besonders berührt, da sich in ihm die Absonderlichkeiten widerspiegeln, die ich zu spüren imstande bin, und da hier die Erinnerung in eine verrückte Dimension vordringt, die sich der Vernunft entzieht: «Ich war erst zwanzig, aber mein Gedächtnis reichte bis in die Zeit vor meiner Geburt zurück.»
5
Oft ging ich meine Großmutter besuchen. Bei meiner Ankunft saß sie immer unerschütterlich auf ihrem Stuhl. War sie in Gedanken? Ich weiß es nicht. Ihr Blick ging ins Nichts, sie erschien mir verloren und geistesabwesend. Keine Ahnung, womit alte Leute die leeren Stunden totschlagen. Ich konnte meine Großmutter, im Gegensatz zu ihr, schon immer von draußen durchs Fenster sehen. Erdgeschosswohnungen haben diesen Nachteil: Man kann seine Untätigkeit nicht verbergen. Sie glich einer Wachspuppe in einem verstaubten Museum. Die Welt schien stillzustehen, während ich ihre Reglosigkeit betrachtete. Die Zeiten in meinem Kopf gerieten durcheinander. Ich wollte noch einmal das Kind sein, auf das sie am Mittwoch aufpassen musste; wollte am Rad der Zeit drehen und ihr das Gefühl der Nützlichkeit zurückgeben. Ihre Welt war mit dem Tod meines Großvaters zusammengebrochen. Was konnte ihr einen Anreiz geben, sie wieder aufzubauen? Was verspricht man sich mit 82 von der Zukunft? Wie geht es weiter, wenn man weiß, dass die Zukunft nur noch ein Chagrinleder bereithält, das in Balzacs Roman für jeden erfüllten Wunsch ein wenig schrumpft und dessen Besitzer sirbt, wenn es aufgebraucht ist. Wie konnte ich das wissen, ich, der das Leben noch vor sich hatte? Die Liebe, die Eingebungen, die Schönheit, dieder Zufall hervorbringt, oder auch die nächste Fußballweltmeisterschaft. Ich beobachtete sie noch ein bisschen, bevor ich an jenem Tag klingelte. Sprachlos stand ich vor diesem Bild eines glatten
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