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Sozialdemokratische Zukunftsbilder

Sozialdemokratische Zukunftsbilder

Titel: Sozialdemokratische Zukunftsbilder
Autoren: Eugen Richter
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Anblick eines Privatwagens.
    Der Reichskanzler, dem man den verhaltenen Zorn anmerkte, grüßte nichtsdestoweniger ruhig nach allen Seiten und ließ langsamen Schrittes dem Schlossportal zufahren. Da wurde er kurz vor demselben, anscheinend aus einer Gruppe dort versammelter Frauen, mit Kot und allerlei Unrat beworfen. Ich sah selbst, wie er sich den Rock davon säuberte und die Schutzmänner abwehrte, mit ihren Totschlägern auf die Frauen einzudringen. Solche der Sozialdemokratie unwürdigen Tätlichkeiten sollten doch nicht vorkommen. Ich hörte denn auch heute mehrfach, dass dem Reichskanzler große Ovationen bereitet werden sollen.

14. Ministerkrisis
    Der Reichskanzler hat seine Entlassung angeboten. Alle Gutgesinnten können dies nur aufrichtig bedauern, zumal nach dem gestrigen Vorfall. Aber der Reichskanzler soll etwas überarbeitet und nervös aufgeregt sein. Es wäre wirklich kein Wunder. Denn er hat das Hundertfache zu denken und zu arbeiten von demjenigen, was früher die Reichskanzler der Bourgeoisie zu tun hatten. Der Undank der Menge hat ihn tief gekränkt. Der Vorfall am Schlossportal war der letzte Tropfen welcher das Fass zum Überlaufen brachte.
    Die Stiefelwichsfrage hat allerdings die Ministerkrisis veranlasst. Es wird jetzt bekannt, dass der Reichskanzler schon vor längerer Zeit dem Staatsministerium eine ausführliche Druckschrift überreicht hat, über welche die Beschlussfassung stets ausgesetzt worden ist. Nun besteht der Reichskanzler auf sofortige Entscheidung und hat seine Denkschrift im „Vorwärts“ veröffentlichen lassen. Die Denkschrift verlangt, dass Unterschiede gemacht werden. Er könne die Dienstleistungen Anderer für seine Person nicht entbehren. Der achtstündige Maximalarbeitstag ist für den Reichskanzler tatsächlich nicht vorhanden, es sei denn, dass man statt eines Reichskanzlers drei Reichskanzler einsetzt, welche innerhalb 24 Stunden umschichtig je 8 Stunden zu regieren hatten. Der Reichskanzler hat, wie er ausführt, an jedem Morgen sehr viel Zeit und Arbeitskraft verloren mit dem Reinigen seiner Stiefel und seiner Kleidung, mit dem Zimmeraufräumen, dem Frühstückholen u. s. w. Infolge dessen hätten wichtige Staatsgeschäfte, welche nur er erledigen könnte, einen Aufschub erfahren müssen. Habe er nicht mit abgerissenen Knöpfen vor den Botschaftern auswärtiger Mächte erscheinen wollen, so hätte er selbst — der Kanzler ist bekanntlich unverheiratet — sich alle Kleiderreparaturen besorgen müssen, die nicht warten können auf die Abholung zu den großen Reparaturanstalten des Staates. Solchen großen Zeitverlust hätte er bei entsprechender Hilfeleistung durch einen Diener zum Besten der Gesamtheit ersparen können. Auch das Essen in der ihm zugewiesenen Staatsküche war lästig wegen des Andranges von Bittstellern, welche dort förmlich auf ihn Jagd machten. Spazierfahrten in den Tiergarten mit seiner Dienstequipage will der Kanzler nur unternommen haben, wenn es ihm wegen der beschränkten Zeit unmöglich gewesen sei, auf andere Weise Erholung in der frischen Lust zu suchen.
    Das hört sich ja Alles sehr plausibel an, aber leugnen lässt sich doch nicht, dass der Antrag des Reichskanzlers das Prinzip der sozialen Gleichheit verletzt und geeignet ist, mit den Dienstboten die Haussklaverei wieder einzuführen. Denn was der Reichskanzler für sich verlangt, könnten mit demselben Recht auch alle Übrigen Minister und Ministerialdirektoren, vielleicht sogar die vortragenden Räte, die Direktoren großer Staatsanstalten, Oberbürgermeister und Magistratsmitglieder für sich beanspruchen. Andererseits ist es auch misslich, wenn die ganze Staatsmaschine, auf deren akkuraten Gang bei unseren großen Organisationen so unendlich viel ankommt, ins Stocken gerät, weil der Reichskanzler sich zunächst die Knöpfe annähen oder die Stiefel putzen muss, bevor er eine Audienz erteilen kann.
    Hier liegt allerdings eine Frage von größerer Tragweite vor, als es auf den ersten Blick Manchem erschienen sein mag. Dass jedoch ein so ausgezeichneter Reichskanzler und zielbewusster Sozialdemokrat auf seiner Laufbahn über diesen Stein stolpern soll, will mir noch nicht in den Sinn.

15. Auswanderung
    Die in Folge der Stiefelwichsfrage ausgebrochene Ministerkrisis dauert fort. Inzwischen ist ein schon vorher zu Stande gekommenes Gesetz gegen die unerlaubte Auswanderung erschienen. Die Sozialdemokratie beruht auf der allgemeinen Arbeitspflicht, ebenso wie die frühere Ordnung
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