Sozialisation: Weiblich - männlich?
anderen gesetzten Notwendigkeiten „weiblich“ verhalten, heißt jedoch nicht, daß diese Verhaltensweisen frei verfügbar und ohne große emotionale Bedeutung wären. Im Gegenteil; Mädchen können gerade deshalb wie Traumwandler darauf zurückgreifen, weil der symbolische Aufbau ihrer Lebenswelt dies nicht nur kognitiv einsichtig macht, sondern zugleich als den eigentlichen Sinn ihrer Wünsche bestimmt. Frau sein bedeutet etwa, einen Mann umsorgen zu wollen – nicht aber, Achtung für die Integrität der eigenen Person zu fordern oder zu erwarten. Der Wunsch nach solcher Achtung ist stark, aber eine kulturelle Artikulation dafür fehlt; d. h. es fehlen Regeln, die Sicherheit verschaffen würden, wann, gegenüber wem und zu welchem Grad, bei welchen Anlässen dies gefordert werden darf, und es fehlen Vorbilder und konkrete Vorstellungen dafür, wie der Wunsch verwirklicht, die Forderung geäußert werden kann.
Von individuellen Unterschieden abgesehen bringt die Sozialisation von Mädchen ein verhältnismäßig breites Spektrum von Verhaltensmöglichkeiten und Fähigkeiten hervor, die sich mit denen der Jungen weitgehend überschneiden. Die Bedeutung dieser Möglichkeiten wird jedoch nicht nur kognitiv sondern auch emotional im Rahmen der Geschlechterpolarität kulturell fortgeschrieben. Je geringer die materiellen Lebenschancen des Mädchens, desto weniger hat sie die Möglichkeit, die Definition der Bedeutung für sich neu vorzunehmen. Mit der Polarisierung der Perspektiven – entweder berufsorientiert, selbständig und durchsetzungsfähig wie ein Mann, oder anhänglich, unselbständig und unterordnungsbereit wie eine Frau werden zu müssen – wird zudem ein nicht unbedeutender Anteil des positiven Selbstwertgefühls der Mädchen für die Anpassung an die herkömmliche Rolle dienstbar gemacht. Haben sie doch vom Schulbeginn an erfahren, daß das männliche Gebaren der Jungen gegen einsichtige ebenso wie gegen uneinsichtige Normen des Sozialverhaltens verstößt. Ihnen entgeht nicht, daß die wichtigen Leistungen von Männern real auf einem Fundament von substantiell unverzichtbarer Arbeit von Frauen beruhen, daß die männlichen Werte (wie Risiko, abstraktes Recht) implizit auf die weiblichen (wie Fürsorge und personenbezogene, ganzheitliche Gerechtigkeit) verweisen.
Die Situation des Mädchens bei der Suche nach ihrem eigenen Lebensentwurf ist zutiefst konflikthaft, denn beide Wege, die sich ihr bieten, enthalten neben Anreizen auch bedrohliche Sanktionen oder Verzichte.
Lott
(1981, S. 97-100) beschreibt dies lerntheoretisch als einen zweifachen „approach-avoidance conflict“: dasselbe Ziel verspricht zugleich Befriedigung und Bestrafung. Soweit das Mädchen Befriedigung darin findet, eigene praktische oder schulische Fähigkeiten außerhalb des Haushalts zu entwickeln, eigenes Geld zu verdienen und über sich selbst zu bestimmen, bietet sich ihr schon der Weg von Berufsausbildung und Selbständigkeit. Nur muß sie zugleich befürchten, daß sie dafür einen sehr hohen Preis bezahlt: Sie wird als unweiblich und unnatürlich gesellen, muß vielleicht auf Familie verzichten und sobald sie die ständig sinkende Altersschwelle überschreitet, nach der Frauen als nicht mehr interessant gelten – mit Einsamkeit rechnen. Für das Arbeitermädchen ist zudem ersichtlich, daß ihr Verdienst, selbst wenn sie allein bliebe, nicht einmal materiellen Komfort erbringen würde. Soweit das Mädchen andererseits es reizvoll finden kann, vor allem in der Familie und im Haushalt zu arbeiten, Ehe und Kinder zu haben, muß sie jetzt schon in der Pubertät beginnen, auf eigene Interessen, eigene Bedürfnisse, und Selbstbehauptung zu verzichten. Auch wenn jede für sich hofft, eine Ausnahme zu sein, wissen Mädchen schon unterschwellig, daß sie mit dem Weg in die Ehe keine Garantie dafür haben, nicht arbeiten gehen zu müssen, und daß die Scheidung durchaus – zunehmend – eine Möglichkeit ist. Auch beinhaltet dieser Weg meist die Annahme von vielen Verhaltensweisen und Situationsbedingungen, die das Mädchen in der Pubertät bei der eigenen Mutter aufs heftigste ablehnt.
Eingespannt in dieses Konfliktfeld sieht das Mädchen trotz vielfacher rebellischer Ansätze zum Schluß nur die Möglichkeit, ein Paket voller Einschränkungen gegen ein anderes einzutauschen, etwa die Abhängigkeit von den Eltern gegen die Abhängigkeit vom dominierenden Freund; oder auch: Gehorsam und Anpassung zu Hause gegen einen angepaßten,
Weitere Kostenlose Bücher