Späte Familie
dass er zum richtigen Zeitpunkt gekommen ist, bei mir ist ein Termin ausgefallen, sagt er, ich habe dir etwas zu essen mitgebracht, und er zieht ein warmes Schokoladencroissant aus einer Papiertüte und hält es mir hin, betrachtet anerkennend den Inhalt des Schranks. Glaubst du, dass ich dich je in all diesen Kleidern sehen werde, fragt er lachend, ich habe das Gefühl, dass ein ganzes Leben nicht dafür ausreicht, und ich lächle verlegen, die meisten Sachen sind sehr alt, vergiss nicht, dass ich mit zwölf Jahren aufgehört habe zu wachsen, und er zieht amüsiert Sommerkleider von den Bügeln und sagt, ich kann den Sommer kaum erwarten, und ich lache,beiÃe hungrig in das Croissant, schaue zu, wie er sich in Kleidern und Schuhen auf dem Bett ausstreckt, und sofort lege ich mich neben ihn, verbreite Krümel um mich, darf man in dieser Wohnung ohne Teller im Bett essen?
In diesem Bett darf man alles, sagt er und nimmt einen Schokoladenkrümel von meiner Lippe, und schon ziehe ich meine Hose aus, und das Zimmer füllt sich mit durstigen Atemzügen, und einen Moment lang weià ich nicht, wo ich bin und mit wem, umgeben von bekannten Dingen an einem noch fremden Ort, mit seinem Körper, den ich noch nicht lange kenne, der ein indirektes Zeugnis für meinen eigenen Körper ablegt, gib mir die Worte, die unseren Atemzügen Bedeutung geben, damit sie unsere Einsamkeit besänftigen, werde ich immer und ewig nach Zeichen suchen müssen?
Mit wem triffst du dich jetzt, frage ich, als er vor dem Spiegel sein Gesicht wäscht und die Haare nach hinten kämmt, und er sagt, mit einem Menschen, warum? Und ich frage, mit einem Mann oder einer Frau? Er lacht, es reicht, Ella, was soll das, ich treffe mich jeden Tag mit ungefähr acht Patienten, mindestens die Hälfte davon sind Frauen, wenn du anfängst, dir darüber Gedanken zu machen, wirst du verrückt, und ich sage schnell, damit habe ich kein Problem, ich möchte einfach nur, dass du hier bleibst, und er sagt, ich komme um drei wieder, bist du dann da? Klar, antworte ich, ich bin hier zu Hause, und er lacht, angesichts all der Kartons weià ich gar nicht, ob hier noch Platz für mich bleibt.
Er bückt sich, küsst mich auf die Stirn, sei gut, ja? Und ich nicke gehorsam, was meinst du damit, und er antwortet, das, was es dir sagt, und als ich ihn gehen höre, ziehe ich die Decke über mich, und obwohl ich mich staubig und müde fühle, spüre ich noch immer, wie seine Zunge an mir entlangstreicht,und ich stöhne genüsslich wie eine Braut, die ihre Hochzeitsnacht erwartet, sei gut, hat er gesagt, was hat er damit gemeint, dass ich gut sein soll zu mir, zu ihm, bedeutet es, sei gut, und alles wird gut werden, vorläufig ist es angenehm, das zu glauben, in dem bequemen Bett, während der Schrank schon voller vertrauter Kleidungsstücke ist und Gilis Zimmer fast fertig, nur der Vorhang, der morgen kommen wird, fehlt noch, und die Ãngste scheinen sich zu entfernen wie eine Krankheit, die plötzlich weicht, und machen einer wilden Fröhlichkeit Platz, und ich drehe mich auf den Bauch und breite die Arme aus, wie ein Vogel, der am Himmel schwebt. Wie viel Geheimnis doch darin liegt, geliebt zu werden, weswegen werde ich geliebt, bis wann werde ich geliebt werden, mit welcher Intensität, es ist ein groÃartiges und verstörendes Geheimnis, aber welche Erleichterung bringt es in dem Moment, in dem ich es einfach akzeptieren kann, wie man die Kräfte der Natur akzeptiert, eine solche Erleichterung, dass ich meine, mitten am Tag hier einschlafen und meine Zugehörigkeit zu dieser Wohnung mit einem ruhigen, sorglosen Schlaf bestätigen zu können, nach all diesen Nächten der letzten Zeit, in denen ich fast kein Auge zugemacht, in denen ich mich in meinem Bett herumgewälzt habe, zernagt von Sorgen und Zweifeln, allein zwischen den Kartons.
Ein kühler Wind streicht mir über das Gesicht, und trotz seiner Kälte scheint er eine Woge von Frühlingsdüften hinter sich herzuziehen, die frische Berührung wirft einen Schlummer über mich, und es ist, als schliefe ich unter freiem Himmel, ich bin wieder von zu Hause geflohen, nach einem Streit mit meinem Vater, und bin so lange gerannt, bis ich das offene Feld erreicht habe, dort lasse ich mich zu Boden fallen, wälze mich zwischen Löwenzahn und Chrysanthemen, dem einfachen Goldschmuck des Winters, undlangsam,
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