Späte Familie
besonders die Randgebiete, denn wie bei einer komplizierten Untersuchung können gerade sie die Lösung bringen: Er weigert sich, seine Haare schneiden zu lassen, im Schlaf bedecken die Locken sein Gesicht und hängen ihm bis in den Mund, er liebt es, im Gehen zu essen, er schwenkt die Arme, er isst mit der Begeisterung eines wilden Tiers, und wenn es dunkel wird, zeigen sich Falten auf der Stirn, sein Rücken wird krumm vor Sorge, wie soll er die kommende Nacht mit all ihren Gefahren überstehen, doch am Morgen ist er fröhlich, als sei sein Sieg endgültig und vollkommen. Sein Herz ist voller Leidenschaft für seine Dutzende von Kuscheltieren, er zieht ihnen seine Babysachen an, er teilt sie in Familien auf, verleiht jedem eine eigene und komplizierte Familiengeschichte.
In unseren Fotoalben sucht er nur sich selbst. Ein Bild, auf dem er nicht zu sehen ist, treibt ihm die Tränen in dieAugen, Ereignisse, an denen er nicht teilgenommen hat, machen ihn wütend, alles, was vor seiner Geburt passiert ist, lässt ihn rebellieren. Alle Kuchen, die ich gebacken habe und von denen er nichts essen konnte, alle Schneetage, die wir erlebten und die er nicht genieÃen konnte, alle Ausflüge, die wir vor seiner Geburt gemacht haben und an denen er nicht teilgenommen hat, vor allem wenn wir mit dem Flugzeug geflogen sind, ohne ihn. Wo war ich damals, fragt er missmutig, schon in deinem Bauch? Als hätte ihm seine Anwesenheit im Bauch trotz allem ermöglicht, an diesem Vergnügen teilzuhaben, und wenn ich bekenne, nein, du warst noch nicht in meinem Bauch, dann suhlt er sich in seinem Schmerz, wo war ich dann, fragt er, gequält von der Vorstellung seiner Nichtexistenz, und ich beeile mich, ihn zu beruhigen, du warst in meinem Herzen, vom Tag meiner Geburt an warst du schon in meinem Herzen.
Er ist ein akribischer und eifriger Historiker seines kurzen Lebens, er hält seine Erinnerungen heilig, jedes Ereignis, an dem er teilgenommen hat, bekommt eine ungeheure Bedeutung, wieder und wieder betont er die Details, um wie viel Uhr bin ich geboren, wer hat mich als Erster gesehen, das bin ich, ruft er, vor Wonne schmelzend, wenn sein kleines Gesicht zum ersten Mal im Album auftaucht, wer hat mich fotografiert, wer hat mir diese Mütze gekauft, und doch schämt er sich bei seinen Nachforschungen, ich erinnere mich an alles, ich frage einfach nur, sagt er, ich erinnere mich auch an das, was passiert ist, bevor ich geboren wurde, in deinem Herzen war ein kleines Fenster, und durch das Fenster habe ich hinausgeschaut und alles gesehen, alles, betont er, fast drohend, als hätte er von seinem Versteck aus auch Dinge beobachtet, die man nicht tut.
Er schläft mit Licht, drei Nachtlampen stehen auf seiner Fensterbank, sein Bett ist voller Kuscheltiere. Er wacht mitGebrüll auf, sein Blick gleicht ihrem, glatt, klar, erwartungsvoll. Er wacht pedantisch über sein Eigentum, alte Schnuller, Babykleidung, gestrickte Schühchen, er weigert sich, sich von diesen Dingen zu trennen, als könnte sein Leben plötzlich in umgekehrter Richtung verlaufen und er würde sie bald wieder brauchen. Er hasst Veränderungen, und jedes einmalige Ereignis verwandelt sich in eine verpflichtende Gewohnheit, einen Ausflug in irgendeinen Vergnügungspark, ein Gedächtnisspiel beim Schlafengehen, alles, was wir einmal getan haben, sollen wir bis ans Ende unserer Tage wiederholen. Er hasst es, wenn man ihm beim Spielen zuschaut, er hasst es, wenn ihm die Sonne in die Augen scheint, versucht, das Licht zu verjagen wie eine lästige Fliege, er kann nicht schwimmen, er kann seine Schnürsenkel nicht binden, er hat Angst davor, Fahrrad zu fahren, seine Eltern haben sich gestern getrennt.
Komm zu mir, Gili, sage ich, mir ist schwindlig von deinem Gehopse, aber er hat sich schon von mir abgewandt, sein Interesse gilt der Tür, dort hantiert jemand mit einem Schlüssel, Mama, ein Einbrecher, flüstert er ängstlich, kontrolliert mit einem schnellen Blick die Kuscheltiere, die auf dem Teppich verstreut herumliegen, welches würde mitgenommen werden, von welchem würde er sich trennen müssen, und ich stehe auf und gehe zur Tür, wo habe ich den Schlüssel hingelegt, aber zu meiner Ãberraschung geht die Tür mit einem entschlossenen Knarren auf. Papa, ich habe gedacht, du wärst ein Einbrecher, jubelt Gili, die Angst, die sich als unbegründet herausgestellt hat, erlaubt ihm ein
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