Späte Schuld
etwas Wertvolles für etwas weniger Wertvolles aufgibt , sagte sie sich, eine Philosophie, die ihr viel Kraft gespendet hatte, als sie es wirklich nötig gehabt hatte. Andis Glück ist mir wichtiger als meine eigene zweitklassige Karriere. Also ist es nicht wirklich ein Opfer.
Gene liebte an Andi, dass sie vordergründig sanft und schüchtern wirkte, aber hitzig und willensstark sein konnte, wenn ihr Sinn für Gerechtigkeit geweckt wurde. Dieses Paradox sprach aus Andis Augen genauso wie aus ihren Worten. Ihre Augen besaßen eine magische Eigenschaft, die so beängstigend wie faszinierend war: Sie konnten gleichzeitig bedrohlich und verletzlich dreinblicken. Eigentlich waren es Andis Augen gewesen, in die sich Gene verliebt hatte. Als sie ihr bei ihrer ersten Begegnung ins Gesicht gesehen hatte, war der flehende, hilflose Ausdruck darin rasch in Wut übergegangen … nein, nicht in Wut … in Beharrlichkeit.
Gene drosselte das Tempo, lächelte Andi aufmunternd zu und betrachtete neugierig die Bürogebäude, die neben ihnen aufgetaucht waren. Andi erwiderte das Lächeln. Genes ansteckende Zuversicht hatte ihr Mut gemacht.
»Sieht aus, als wären wir da«, erklärte Gene resolut.
Sie bremste vor einem großen Bürokomplex.
»Wünsch mir Glück«, bat Andi und holte tief Luft.
Gene sah sie streng an. »Das mache ich bestimmt nicht, Süße. Das hast du nämlich gar nicht nötig.«
Gene zog Andi mit der linken Hand zu sich heran, um sie auf den Mund zu küssen. Es gelang ihr immer wieder, Andi aufzumuntern, wenn sie von Angst und Selbstzweifeln überwältigt wurde.
Genau dafür liebe ich dich, Gene , dachte Andi und schloss die Augen. Aber sie sagte es nicht. Stattdessen drückte sie Gene noch an sich, als diese die Umarmung schon längst gelockert hatte, bevor sie sich schließlich losriss und aus dem Auto stieg. Sie wollte etwas sagen, aber sie war immer noch ganz zittrig vor Aufregung und wusste, dass Gene das spürte.
»Jetzt geh rein und hau sie um, Süße!«
Andi warf die Autotür zu und ging auf den Bürokomplex zu. Ohne einen Blick auf die unzähligen Namensschilder der Kanzleien und Buchhaltungsfirmen zu werfen, betrat sie das Gebäude und zeigte dem Sicherheitspersonal ihren Ausweis.
Draußen blickte Gene Andi hinterher wie eine Mutter, die ihre weinende Sechsjährige am ersten Schultag im Getümmel verschwinden sieht. Dann ließ sie den Motor aufheulen, wendete den Wagen aggressiv mitten auf der Straße und fuhr die Strecke zurück, die sie gekommen war. Ihr war klar, dass es ein harter Tag für Andi werden würde – erste Arbeitstage sind immer hart.
Das Handyklingeln riss sie aus ihren Gedanken. Der Anruf kam von Sag Nein zu Gewalt , einem Krisenzentrum für Vergewaltigungsopfer.
»Hallo«, meldete sich Gene und drückte auf den Knopf für die Freisprechanlage.
Bridget Riley arbeitete in der Abteilung für Sexualverbrechen der örtlichen Polizeiwache. Und ein Anruf von Bridget Riley konnte eigentlich nur eins bedeuten: Es war wieder eine Frau vergewaltigt worden.
Freitag, 5. Juni 2009 – 09.45 Uhr
»Du bist früh dran, Alex.«
Alex Sedaka drehte sich um und sah einen achtundfünfzigjährigen schwarzen Mann vor sich stehen, der ihn strahlend anlächelte. Elias Claymore war viel zu warm angezogen für den südkalifornischen Sommer, womit er vermeiden wollte, dass man ihn erkannte. Er lenkte nicht gern die Aufmerksamkeit auf sich, weil er sonst sofort von Autogrammjägern umringt wurde.
»Ich saß in der ersten Reihe«, erklärte Alex und erwiderte das Lächeln. »So war ich der Erste an der Tür.«
»Wie geht‘s dir, alter Freund?«, fragte Claymore und verschmähte Alex’ ausgestreckte Hand, um ihn stattdessen an die Brust zu ziehen und herzlich zu umarmen.
Alex erwiderte die freundschaftliche Umarmung und folgte Claymore dann durchs Flughafengebäude.
»Was ist mit deiner Show?«, fragte er, während sie auf einen Ausgang zusteuerten.
»Der Sender hat den Vertrag verlängert.«
Elias Claymore war der neue Star unter den Talkshowmoderatoren, seit man im letzten Jahr beschlossen hatte, seine kalifornische Talksendung landesweit auszustrahlen. Manche hielten ihn bereits für den nächsten Montel Williams. Andere wiederum kritisierten diesen Vergleich im Hinblick auf Claymores wenig ehrenhafte Vergangenheit.
»Was macht die Liebe?« Typisch Elias, Gesprächspausen mit einer indiskreten Frage zu füllen.
»Ich bin mit meiner Arbeit verheiratet, das weißt du doch«, antwortete Alex
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