Späte Schuld
sich zusammengesunkene Gestalt erkennen konnte.
Aber was dann passierte, überraschte Alex, denn plötzlich flog die Tür vollständig auf, und Martine taumelte in ihrem Bademantel heraus und brach in seinen Armen zusammen.
Mittwoch, 2. September 2009 – 19.53 Uhr
Langsam streckte Claymore die Hände aus und legte sie auf Andis Herz. Es waren dieselben Hände, die damals in dem abgeschiedenen Waldgebiet ihre Brüste befummelt hatten, während sie heftig schluchzend vor ihm im Gras gelegen und ihn angefleht hatte, ihr nicht wehzutun. Genau nach Anweisung der Frau aus der Notrufzentrale begann er mit der Herzmassage, wobei er laut die Stöße zählte: »Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn.«
Dann beugte er sich vor und öffnete den Mund. Einen Moment lang zögerte er, weil er daran zurückdachte, wie er sie zu Boden gedrückt und ihre schmalen, zarten Handgelenke mit seiner riesigen Pranke festgehalten hatte, um sich über sie zu beugen und seinen Mund auf ihren zu pressen.
Ich muss es tun , dachte er.
Behutsam legte er seinen Mund auf ihren und führte die erste Beatmung durch, wobei er in Gedanken betete, dass sein Atem ihre Lebensgeister wiedererweckte. Nach einer kurzen Pause blies er ein zweites Mal in ihren Mund, bevor er sich wieder hinkniete und die nächsten fünfzehn Stöße ausführte.
»Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn.«
Erneut beatmete er sie zweimal und ging dann zur dritten Herzmassage über. Nachdem er diesen Prozess noch drei weitere Male wiederholt hatte, fühlte er sich erschöpft und besiegt. Noch immer kein Lebenszeichen. Er setzte sich aufrecht hin und erinnerte sich, wie er die vierzehnjährige Andi mit den Händen gewürgt hatte, als sie versucht hatte, um Hilfe zu rufen. Zaghaft legte er die Hand an ihren Hals, um ihren Puls zu fühlen. Zuerst registrierte er eine leichte Bewegung ihres Brustkorbs, bevor er endlich auch den herbeigesehnten Puls fühlte. Ihr Herz schlug, und sie hatte wieder angefangen zu atmen! Zwischen Schmerz und Freude hin- und hergerissen stieß Claymore einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, während ihm Tränen in die Augen schossen.
Dann stand er taumelnd auf, wandte sich ab und weinte in seine Hände.
Mittwoch, 2. September 2009 – 19.55 Uhr
Martine klammerte sich an ihn, und er umschlang sie fest mit seinen Armen. Seltsamerweise weinte sie nicht, sondern keuchte nur heftig, als müsste sie erst wieder zu Kräften kommen.
»Wo ist Manning?«, fragte er eindringlich. »Und Gene?«
»Drinnen«, krächzte Martine.
Er warf einen nervösen Blick zur Tür und versuchte, Martine aus der Gefahrenzone zu schieben, aber sie widersetzte sich. »Wir müssen ihr helfen«, sagte sie und lockerte ihre Umarmung, um sich zur Tür umzudrehen.
Er nickte, obwohl er nicht wusste, was sie damit meinte oder was ihn hinter dieser Tür erwartete. Als er hinter ihr das Zimmer betrat, sah er Gene neben Louis Manning auf dem Boden kauern. Sie hielt seinen blutenden Kopf in den Armen und schaukelte sanft vor und zurück, als würde sie ein Baby in den Schlaf wiegen.
Manning rührte sich nicht. Seine Augen standen offen, aber sie waren ins Leere gerichtet. Das einzige Geräusch im Zimmer war ein leises Summen, das aus Genes Kehle drang. Sie sang ihrem Sohn ein letztes Wiegenlied.
Martine drehte sich zu Alex um, und jetzt stiegen auch ihr Tränen in die Augen. »Er war ein Lachs«, sagte sie leise.
»Ein Lachs?«
»Ja, ein Lachs, der stromaufwärts zu dem Gewässer zurückschwimmt, in dem er geboren wurde. Aber er hat es nicht bis dorthin geschafft.«
Mittwoch, 2. September 2009 – 22.00 Uhr
Später an diesem Abend stand Claymore wieder auf der Golden Gate Bridge und betrachtete mit tränenlosem Blick das unter ihm tosende Meer. Er hatte Andi in die Notaufnahme begleitet und war immer noch bei ihr im Krankenhaus gewesen, als Gene mit Alex und Martine eingetroffen war. Andi war noch nicht richtig bei Bewusstsein gewesen, aber sie hatte auf Gene reagiert und einmal sogar ihre Hand gedrückt. Als Alex und Martine kurz darauf aufgebrochen waren, hatte auch Claymore gemerkt, dass er störte.
Darum stand er nun hier auf der Brücke, wo weit und breit keine Menschenseele zu sehen war, und blickte zu der Stadt hinüber, in der ihn die Justiz für unschuldig erklärt hatte. Aber dem Urteil seines eigenen Gewissens entkam er nicht so
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