Späte Schuld
blieb, Andi durch das Labyrinth aus Schreibtischen und schulterhohen Trennwänden zu führen, hinter denen die jüngeren (männlichen) Mitarbeiter neugierig hervorspähten, um einen Blick auf die Neue zu erhaschen. Die meisten Frauen konzentrierten sich hingegen auf ihre Kopierarbeiten oder die Akten auf ihrem Schreibtisch und hoben nur kurz den Blick, um die Konkurrenz abzuschätzen.
»Es ist nicht wirklich eine Abteilung«, antwortete Sherman nervös. »Eher ein Bereich innerhalb meiner Abteilung.«
Andi verspürte einen Anflug von Unbehagen, als diese Worte in ihr Bewusstsein vordrangen. »Das verstehe ich nicht. Ich dachte, ich würde hier eine Abteilung leiten.«
Sherman wand sich vor Verlegenheit. Er war nur wenig kleiner als Andi, und doch schien sie ihn um Längen zu überragen. »Na ja, meine Abteilung befasst sich mit fahrlässigem Verhalten jeglicher Art, und in unserer Kanzlei ist die Verschuldenshaftung eben eine Unterabteilung davon.«
»Ich hätte gedacht, dass zwischen böswilligem und fahrlässigem Verhalten ein Unterschied besteht.«
»Fällt beides unter rechtswidrig.«
»Hausfriedensbruch ist auch rechtswidrig«, entgegnete sie, als würde sie mit einem Kind sprechen. »Genau wie Belästigung oder Beleidigung.«
»Ja, aber Verleumdung und üble Nachrede sind vorsätzlich.«
»Verbrechen auch.«
Sherman wirkte peinlich berührt. Auch wenn ihn Andis Konfrontationskurs sichtlich ärgerte, schien es ihm zu widerstreben zurückzuschießen. »Nun ja, ich möchte mich hier nicht als Besserwisser aufspielen. Wenn wir ein Verbrechensopfer zu vertreten haben, werden Sie diejenige sein, auf deren Schreibtisch der Fall landet. Sie sind die Expertin auf diesem Gebiet. Ich bin nur ein einfacher Anwalt für Fahrlässigkeitsfälle.«
Das Unbehagen in Andi wuchs. Ihr war etwas ganz anderes versprochen worden. Die Kanzlei hatte ihr die Stelle ohne Vorstellungsgespräch angeboten, einzig und allein auf Basis ihres Lebenslaufs und der Empfehlung ihres Abteilungsleiters in New York. Was Sherman nun beschrieb, ähnelte so gar nicht der Jobbeschreibung, die sie im Zuge des Stellenangebots erhalten hatte, sondern stellte eher einen Rückschritt dar.
Sie hatte sich zu dem Jobwechsel entschlossen, nachdem ihr klar geworden war, dass sie in New York keine Aufstiegsmöglichkeiten hatte. Aber jetzt sah es so aus, als sei sie hergelockt worden, um auch hier nur auf der Stelle zu treten. Sie fühlte sich betrogen. Abwarten , ermahnte sie sich. Bloß kein vorschnelles Urteil fällen. Vielleicht täuscht der erste Eindruck ja. Vielleicht haben sie hier nur eine andere Kanzleistruktur.
»Lassen Sie mich noch einmal nachhaken, Mr Sherman: Jedes Verbrechensopfer, das gegen den Täter vor Gericht ziehen will, landet auf meinem Tisch?«
Sie beobachtete sein Gesicht genau.
»Solange der Fall ausschließlich in Ihr Aufgabengebiet fällt, ja. Es könnte allerdings auch Bereiche geben, die sich überschneiden, dann müssen wir das diskutieren. Aber niemand wird irgendetwas hinter Ihrem Rücken unternehmen, geschweige denn über Ihren Kopf hinweg. Alles wird auf Konsensbasis entschieden.«
Es war offensichtlich, dass er sie aufmuntern und ihr Mut machen wollte. Dass man sie hier respektierte, lag auf der Hand, da die Kanzlei sonst kaum jemanden vom anderen Ende des Landes eingestellt und ihm ein derart großzügiges Gehalt angeboten hätte, von der Übernahme der Umzugskosten ganz zu schweigen.
»Das klingt ja ganz vernünftig. Ich hatte mir nur etwas anderes vorgestellt.«
»Dann lassen Sie uns doch einfach abwarten, wie es läuft«, schlug er vor. »Sie werden auf jeden Fall eigenverantwortlich arbeiten, und in den allermeisten Fällen wird niemand versuchen, Ihr Know-how in Frage zu stellen. Die anderen Partner werden sich aller Voraussicht nach Ihrem Urteil beugen, schließlich sind Sie die Expertin.«
»Na, dann an die Arbeit«, erwiderte Andi, deren Miene sich allmählich aufhellte.
»Das ist die richtige Einstellung.«
»Also, wo ist mein Büro?«
Sherman wirkte peinlich berührt. »Na ja, es ist nicht wirklich ein eigener Raum«, sagte er nervös. »Wie Sie sehen, arbeiten wir hier im Großraumbüro.«
»Sie meinen, nur die Partner haben eigene Büros?«
»Nein, ein paar andere auch. Aber wir hatten kein Zimmer mehr frei, von den Konferenzräumen einmal abgesehen. Sie bekommen Ihr Büro, sobald wir eine Lösung für unser Platzproblem gefunden haben. Wir müssen nur erst ein bisschen was umorganisieren. In
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