Spaetestens morgen
dunklen Zöpfen kam von ihren Eltern begleitet und legte ihre Sachen neben Aimée auf den leeren Stuhl. Die Eltern drückten und küssten sie lange zum Abschied. Kaum dass sie sich gesetzt hatte, nahm sie ein Lineal aus der Tasche und legte es in die Mitte des Tisches.
»Hier ist die Wand«, sagte sie, und: »Bleib auf deiner Seite.«
Am nächsten Morgen baute sie mit den Schulbüchern und der Begründung »Meine Eltern sagen, dein Onkel ist ein besoffener Spinner« eine unübersehbare Grenze in die Tischmitte.
In derselben Woche wurde Aimée auf dem Heimweg von drei älteren Mädchen in ein nahe liegendes Gebüsch gezerrt. Die eine drückte ihr die Arme auf den Rücken, die andere hielt ihr die Nase zu, und bevor sie losschreien konnte, stopfte ihr die dritte den Mund mit der schwarzen torfigen Erde zu, die sie schnell vom Boden gekratzt hatte.
Am nächsten Tag schloss sich Aimée in der Pause auf der Toilette ein. Kaum hatte sie die Tür von innen verriegelt, hörte sie die Stimme ihrer Banknachbarin und deutliche Schritte mehrerer Mädchen. »Wo hat sich der Abschaum denn versteckt? Komm schon her!« Sie öffneten eine Kabine nach der anderen, dass die Türen gegen die Wand schlugen: »Wir haben mit dir zu reden.«
»Was wollt ihr?«
Aber sie waren bereits auf der anderen Seite hochgeklettert und beugten sich von oben über die Wand. Aimée stand unten wie in einer Grube, und alle spuckten gleichzeitig auf Kommando los. Aimée versuchte, an den herunterhängenden dunklen Zöpfen zu ziehen, als eine Faust wie ein harter Gegenstand auf ihren Kopf niederfuhr.
Sie kletterten herüber, leerten ihre Schultasche auf dem Boden aus und rannten mit dem Geld, das ihr Onkel Max für den Notfall mitgegeben hatte, fort. Während Aimée die Bücher und Hefte einsammelte, kam ihr dieser Angriff wie etwas Unausweichliches vor, und sie ahnte schon die zukünftigen, die sich gewissenhaft und in immer neuen Ausformungen wiederholen würden.
Von da an schlug Aimée morgens die entgegengesetzte Richtung ein. Am Rande der Stadt, auf einer stillgelegten Baustelle, entdeckte sie einen Bretterverschlag. Dort hockte sie sich hinein und versteckte sich. Wenn es regnete, tropfte es durch die schmalen Bretterritzen, und sie drückte sich in eine Ecke, wo es trocken war, und beobachtete, wie sich das feucht werdende Holz langsam dunkel färbte.
Sobald die Glocken einer nahen Kirche Mittag schlugen, kroch sie aus dem Versteck heraus und ging nach Hause.
Ein paar Wochen später, Aimée saß am Tisch und zeichnete gerade Raubtiere auf große Blätter, klingelte es, und zwei fremde Frauen kamen herein. Während sie leise und bestimmt auf Onkel Max einredeten, schauten sie sich die Wohnung an und öffneten jede Tür. Unter den lauten Flüchen von Onkel Max packten sie Aimées Sachen zusammen, und eine halbe Stunde später fuhren sie mit ihr weg.
Im Heim wurde das Essen in einem Untergeschoss mit langen Holzbänken eingenommen. Der Reihe nach wurde jedem Kind das Essen in den Teller geschöpft. Beim Anblick der Speisen auf dem Teller und dem Gedanken, dass dies alles in ihrem Mund verschwinden sollte, verkrampfte sich Aimées Magen. Sie kaute auf einem Stück Fleisch herum, und als weigerte es sich, hinuntergeschluckt zu werden, behielt sie es im Mund, bis es faserig wurde und zerfiel. Aimée hörte auf, Nahrung zu sich zu nehmen, und verteilte ihr Essen an die Tischnachbarinnen, die es dankbar hungrig verschlangen.
Erleichtert sah sie den Mäulern zu, die für sie ihr Essen kauten. Nach einigen Tagen sah sie beim Duschen die Hüftknochen unter der Haut durchschimmern. Aimée stellte sich vor, dass sie unter der Haut aus Glas sei und ihre Knochen etwas Helles und Durchsichtiges sein müssten. Aimée schwebte durch die Gänge. Nachts lachte sie im Schlaf auf, wie nach einem entscheidenden Sieg.
Als sie eines frühen Morgens im Unterricht an die Wandtafel gerufen wurde, schien ihr das Kratzen der Kreide auf dem Schiefer einen unerträglichen Lärm zu machen, und als sie sich erschreckt vom Schmerz umdrehte, wogte die Klasse im Kriegsgeheul mit erhobenen Fäusten auf sie zu.
Als Aimée wieder aufwachte, lag sie in einem Krankenbett. Eifrig wurden Löffel an ihren Mund geschoben. Doch die Suppenteller, Tassen und Gabeln zogen vor ihren zusammengepressten Lippen erfolglos wieder ab. Sie fragte die Ärzte und Krankenschwestern nach Onkel Max, aber als sie keine Antwort bekam, hörte sie auch auf zu fragen.
Während die flüssige Nahrung
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