Spaetestens morgen
durch Infusionsschläuche in ihren Körper strömte, verdunkelte sich Aimées Blick, und ihre Hände ballten sich unter der Decke zu kleinen, harten Fäusten. Es kam ihr vor, als ob man sie im ganzen Zimmer verteilte. Die Infusionsflasche hing wie ein Organ neben ihrem Bett, die Kanülen pulsierten wie die peinigende Verlängerung ihrer Blutbahnen Tag und Nacht neben ihrem Körper.
Ende September hatte man für Aimée eine Pflegemutter gefunden. Unter der unerbittlichen Pflege von Edith Bischoff wurde Aimée in nur wenigen Wochen mit Vitaminpräparaten wieder aufgebaut. Jeden Morgen stellte Edith Bischoff ein ganzes Arsenal von Pillendosen und Fläschchen auf den Tisch, und die erste halbe Stunde des Tages verstrich mit dem qualvollen Einnehmen von Pillen und Tropfen.
Bereits wenige Tage nachdem Aimée in Edith Bischoffs Haus eingezogen war, kamen Briefe von Onkel Max. Aber Edith Bischoff ignorierte die flehenden Briefe, in denen er bat, Aimée besuchen zu dürfen. Der verzweifelte Ton darin berührte sie unangenehm, und sie warf sie weg, ohne zu antworten.
Immer wieder fragte Aimée nach ihm, aber Edith Bischoff sagte, sie kenne keinen Max. Ohnehin würde sie ihn bald vergessen haben. Schließlich hatte Edith Bischoff für alles gesorgt. Auch für Freunde. Zehn Kinder aus der Nachbarschaft hatte sie zu Aimées Geburtstagsfest eingeladen.
Mit heimlicher Freude steckt Edith Bischoff acht Kerzen in die noch warme Geburtstagstorte und trägt sie ins Esszimmer. Girlanden, die sie in mühsamer Arbeit aufgehängt hatte, schmücken in farbigen Bögen das Zimmer. Seit Aimée im Haus ist, sinkt sie abends in einen festen, gesättigten Schlaf, denn den ganzen Tag über arbeitet sie an Aimées Liebe und dem Aufbau ihres Körpers, ernst und kraftraubend, wie man in einem Bergwerk arbeitet.
Das schwache und abgemagerte Kind hatte ihr Gefühle entlockt, und das Suppenkochen, Tropfenabzählen, In-die-Sonne-Hinaustragen, das dauernde Nahrunghineinschütten kommt ihr zielgerichtet und einfach vor. Es scheint ihr, sie höre ihre eigenen Schritte im Haus plötzlich deutlicher und ginge mit größerer Sicherheit durch die Räume, als würden sie durch ihre Anwesenheit kleiner.
Das blaue Seidenpapier knistert unter Aimées Fingern. Ihr Blick war gleich auf dem geheimnisvoll runden Paket haftengeblieben. In den Sekunden, während sie es öffnet, sieht sie all die Spielsachen vor sich, die sie in den Schaufensterauslagen mit Onkel Max bewundert hatte und die er ihr nicht hatte kaufen können.
Lange und verständnislos blickt Aimée auf den Keramikteller, auf dessen Boden Initialen gemalt sind. Edith Bischoff lacht begeistert auf, nimmt den Teller und trägt das Geschenk in die Küche.
Den ganzen Vormittag klingelt es, fremde Kinder strömen in Zweier- und Dreiergruppen ins Haus herein und versammeln sich unter den Girlanden.
Als ein Junge anfängt, Tischtücher und leinene Servietten aus einer Schublade zu zupfen, folgen ihm die anderen, öffnen die Schubladen und ziehen alles heraus. Aus den Servietten werden Fluggeschosse, die quer durchs Zimmer fliegen und ein paar Girlanden niederreißen.
Edith Bischoff indes geht mit großzügigem Blick im Haus herum. »Das ist eine Wolke«, sagt ein kleiner Junge und setzt sich in die Mitte eines Tischtuches, das er auf dem Boden ausgebreitet hat: »Wer mitfliegen will, muss jetzt aufsteigen.«
Aber die anderen lachen, bewerfen ihn mit ihren Geschossen und stellen sich in einem Kreis um die Torte. Edith Bischoff hat ein Messer gebracht, um sie anzuschneiden.
Ein plötzliches Poltern, als sei etwas Schweres gegen die Tür gestoßen, lässt alle zusammenzucken. Noch bevor Edith Bischoff die Tür ganz geöffnet hat, wankt Onkel Max an ihr vorbei ins Zimmer. In der Hand hält er ein hölzernes Schaukelpferd. Er hebt es, in der Luft hin und her wippend, hoch und ruft mit der heiseren Stimme eines völlig Betrunkenen: »Wo ist das Geburtstagskind?«
Der kleine Junge auf dem Tischtuch springt auf und eilt zu den anderen.
Onkel Max steht mit suchendem Blick im Zimmer, als sich Edith Bischoff ihm in den Weg stellt.
»Gehen Sie! Verlassen Sie auf der Stelle mein Haus.« Sie will es schreien, aber etwas hat ihrer Stimme die Kraft genommen, so dass es wie eine Bitte klingt.
Die hölzernen Kufen des Schaukelpferdes wie Spieße gegen sie gerichtet, drängt er sich an ihr vorbei.
Die Kinder haben sich am Treppenabsatz zusammengerottet, mit verängstigt erwartungsvollen Gesichtern. Einige halten
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