Spaetestens morgen
lächelt gequält auf das Kind herab. Es sind erst drei Wochen vergangen, seit sie aus dem Heim hierhergebracht wurde. In Edith Bischoffs Haus. In diese nach Sicherheit riechende Festung.
»Wo ist Max?«, kommt Aimées Stimme gedämpft unter der Decke hervor.
Edith Bischoff blickt auf den kleinen, zusammengerollten Körper, der unter der Decke atmet, und plötzlich scheinen die aufgedruckten Schlümpfe auf der Kinderbettdecke höhnisch zu lachen, und ein tiefsitzender Groll beginnt, sich wie etwas Lebendiges in ihr zu regen. Sie muss an Max denken, den Onkel, bei dem Aimée aufgewachsen ist. Wie man ihr im Heim mitgeteilt hatte, war Aimée fünf Jahre alt gewesen, als ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Der Bruder ihres Vaters, Onkel Max, hatte sich bereit erklärt, für Aimée zu sorgen. Drei Jahre war sie bei ihm geblieben, dann hatte die Vormundschaftsbehörde ihn für nicht erziehungsberechtigt erklärt und Aimée ins Heim gebracht. Edith Bischoff wusste über ihn nicht mehr, als dass er ein Trinker war und Aimée immer wieder wochenlang unentschuldigt in der Schule gefehlt hatte. Sie denkt mit Bitterkeit an diesen Mann, der in ihren Gedanken eine diffuse Gestalt annimmt, die sie abstößt und ihr Furcht einflößt.
»Wo ist Max?«, kommt es jetzt drängender, und der Körper unter der Decke scheint sich bei der Frage ein wenig aufzubäumen.
»Schlaf jetzt«, sagt Edith Bischoff ungeduldig und löscht das Licht.
Als Aimée zu Onkel Max kam, hatte er keine Arbeit. Einmal in der Woche nahm er sie an die Hand, und sie gingen gemeinsam zum Arbeitsamt. Schon von weitem sah Aimée, wie vor dem großen Gebäude die Menschen zusammenliefen. Sobald sie den Warteraum betraten, zückte Onkel Max die gelbe Stempelkarte aus der Manteltasche und hielt sie wie ein Schild vor sich. Schweigend stellten sie sich in die Reihe. Es drängten immer mehr Leute hinein als hinausgingen. Die Leute blickten mit zunehmend resigniertem Ausdruck auf die Uhr. Eine an der Decke hängende defekte Neonröhre machte in unregelmäßigen Abständen ein helles röchelndes Geräusch. Niemand redete, nur ein paar Frauen tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Wenn dann über dem Türrahmen die Nummer und das Schild »Eintreten« aufleuchteten, ging Onkel Max hinein, und Aimée wartete in einem der orangefarbenen Plastikstühle. Sie saß mit geradem Rücken da und konzentrierte sich auf einen Punkt am Boden oder an der Wand. Manchmal beugte sich eine der Frauen zu ihr hinunter, um ihr ein Stück Schokolade oder eine kleine bunte Süßigkeit zuzustecken, und lächelte dann ein nach innen gekehrtes Lächeln, als hätte sie etwas Verbotenes getan.
Kaum draußen, begann Onkel Max lauthals zu fluchen, weil er wieder keine Arbeit bekommen hatte, und die Jungen, die beim Eingang standen und selber keine Stelle bekommen hatten, sahen ihnen spöttisch nach. Im Zorn drückte Onkel Max Aimées Hand noch fester. Sie nickte unablässig, während Onkel Max schimpfte, wenn sie so, wie Verbündete, nach vorn gebeugt heimwärts eilten.
In den darauf folgenden Nächten, wenn Onkel Max spät nach Hause torkelte, kam er manchmal nicht bis zur Wohnungstür, sondern brach vorher im Flur zusammen. Aimée, die wachgelegen und auf ihn gewartet hatte, stürzte dann hinaus, brachte ihm Wasser, zupfte sein vom Kopf abstehendes Haar zurecht und redete auf ihn ein. Aber meistens schlief er schon fest, den Kopf auf dem Ellbogen, und stand erst wieder auf, als es Morgen wurde, kurz bevor die ersten Leute, die zur Arbeit mussten, die Treppe runterkamen.
Einmal hatte Onkel Max abends das Zimmer verdunkelt und ihr das Schattenspiel gezeigt. Er konnte mit seinen Händen alle Tiere an die Wand zaubern. Flugsaurier und kleine Vögel durchkreuzten dann die weiße Zimmerwand. Wenn sich das Scheinwerferlicht eines Autos auf der Wand abzeichnete, mussten die Schattentiere flüchten.
»Wen das Licht trifft, ist tot«, sagte Onkel Max. Am Ende formte er mit beiden Händen einen meterhohen Rachen und fraß unter dem protestierenden Gekreische von Aimée ihre beiden kleinen Schattentiere auf.
Als Aimée schulpflichtig wurde, brachte Onkel Max sie eines Morgens zu einem roten Backsteingebäude. Hunderte von Kindern drängten sich, links und rechts von ihren Eltern flankiert, durch eine messingbeschlagene Flügeltür. Drinnen verteilten sie sich in den Klassenzimmern.
Aimée wurde ein Platz am Fenster in der hinteren Reihe zugeteilt. Ein fremdes Mädchen mit wippenden
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