Spaetestens morgen
sich bereit, die Hände schon am Geländer, in den oberen Stock zu flüchten. Langsam stolpernd geht Onkel Max auf Aimée zu, als Edith Bischoff ihn am Arm packt, um ihn fortzuziehen. Sie ist überrascht, wie widerstandslos er sich, durch das Gewicht des Schaukelpferdes zur Seite geneigt, nach draußen führen lässt. Durch seine Schwäche ermuntert, stößt Edith Bischoff ihn mit einer letzten fortjagenden Bewegung über die Schwelle. Rasch schließt Edith Bischoff die Tür ab und eilt mit siegessicher ausgestreckten Armen auf Aimée zu. In der festen Umklammerung blickt Aimée zur Tür.
»Wo bist du? Komm doch endlich«, hört sie Onkel Max wie verwundert und mit heller werdender Stimme rufen.
Die Fähre
Cora packt hastig ihre Windjacke vom Kleiderhaken und eilt nahe der Wand entlang zur Schulhaustreppe, wo sich Hunderte von schreienden und sich stoßenden Kindern wie durch einen Trichter zum Ausgang drängen. Im wilden Durcheinander, den Kopf gesenkt, als erwarte sie Schläge, zwängt sich Cora zwischen den Kindern hindurch auf den Schulhof. Das Geschrei der sich keilenden und Fußtritte austeilenden Schüler hinter sich lassend, nimmt sie mit kleinen schnellen Schritten den Heimweg über die Rheinpromenade.
Vor wenigen Tagen hat man ihre ältere Schwester Lore beerdigt, weil sie, so hatten die Eltern es Cora erzählt, eine hohe Mauer hinuntergefallen war und sich beim Sturz das Genick gebrochen hatte. Seither liegen ihre Eltern in schwarze Kleider gehüllt zu Hause auf dem Sofa mit enttäuschtem, abgewandtem Blick. Zweimal am Tag geht die Mutter ans Telefon, um den Kurierdienst anzurufen, der das Essen für Cora bringt.
Lore ist damals immer stummer geworden. Jeder Tag schien ihr mit kaltschnäuziger Geste eine neue Falte ins Gesicht zu graben. Einmal war Cora zielstrebig und ohne anzuklopfen in Lores Zimmer getreten, hatte sich ganz nah vor sie hingestellt – sie reichte Lore, die zehn Jahre älter war, bis zum Bauch –, hatte zu ihr hochgeblickt und mit dem ganzen Ernst, den ein siebenjähriges Mädchen aufbringen kann, gefragt, warum sie denn nicht mehr reden wolle.
Lore hatte ihren Pullover hochgezogen, über Coras Kopf gestülpt und sie mit beiden Händen fest an sich gedrückt. Cora atmete die heiße Luft unter dem Strickpullover, und durch die Maschen sah sie Lores Notenständer zusammengeklappt an der Wand stehen und die Violine verstaut im blauen Samt des geöffneten Geigenkastens.
»Gehst du fort?«, kam Coras überraschte Stimme unter dem Pullover hervor.
Aber Lore drückte ihre Hände nur noch fester an Coras Körper, so dass sie in der heißen Luft zu ersticken drohte und sich aus der Umklammerung riss.
Als man Cora ein paar Tage später schließlich zum Sarg führte, damit sie sich von ihrer Schwester verabschiedete, blickte sie ungläubig und fasziniert auf Lores Kopf, der geschminkt und wie ein Schmuckstück auf ein seidenes Kissen gebettet war. Cora beugte sich über sie und stellte sich vor, wie die Wörter wie Lebewesen in Lores weiß gepudertem Hals stecken bleiben, im Dunkeln ihrer Halsröhre, und nicht weiterkommen aus ihrem Mund hinaus ans Licht. Aber tot war Lore doch deshalb noch lange nicht, und Cora wollte sie schon hinter dem Ohr kitzeln, um eine Reaktion zu provozieren, als ihr aus der Tiefe des Sarges dieser trostlos fremde Geruch entgegenschlug. Sie war entsetzt aus dem Raum gerannt und hatte Mutter die ganze Zeit am Ärmel gezupft und gerufen: »Aber das da drin kann nicht Lore sein!«
Schon seit Wochen scheint die Sonne, ohne zu wärmen, von einem festgefrorenen blauen Himmel herab auf die Stadt. Cora hat die Hände in die Taschen gesteckt und zu kleinen Fäusten geballt. In der Luft liegt Schneegeruch. Der Uferweg ist mit quadratischen Steinen gepflastert, und Cora überspringt immer ein Quadrat, hüpft mehr, als dass sie geht, und sie denkt sich, links und rechts des Quadrates sei ein Abgrund; und so setzt sie den Fuß immer in die Mitte, überspringt wieder ein Quadrat, setzt den anderen Fuß auf, immer weiter, mit gesenktem Kopf, den Blick konzentriert auf diese Quadrate gerichtet, auf die kleinen Felder sicheren Bodens.
Der Wind trägt eine Handvoll braunschwarze, von der Kälte aufgerollte Kastanienblätter aus dem Unterholz auf den Weg. Mit einem trockenen Geräusch kullern sie die Böschung hinunter ins Wasser. Cora verfolgt mit den Augen ein Blatt, wie es, ein winziges Schiff, den Strom hinuntertreibt und jäh unter einer Uferwelle verschwindet.
Cora bleibt
Weitere Kostenlose Bücher