Spaetestens morgen
die Frau auf einer Bahre unter einer Wolldecke weggetragen, und eine Viertelstunde später waren alle Menschen wieder fort.«
Die erhitzten Orangenschalen liegen eingerollt auf dem Ofen, der Geruch von Tanne und Zitrone liegt in der Luft.
Cora trommelt mit den Fingern auf ihren Knien herum:
»Aber sie ist tot?«
Der Fährmann lacht auf und schlägt sich mit der Hand auf den Schenkel: »Was glaubst du denn, was passiert, wenn man eine fünfzehn Meter hohe Mauer runterstürzt?! Natürlich ist sie tot«, schnaubt er wütend, mit der einen Hand fest das Ruder haltend.
Cora starrt auf die Knöchel seiner Hand, kleine rote Hügel. Die Fähre neigt sich in der kraftlosen Strömung kaum merklich zur Seite.
»Du lügst, niemals kann das Mädchen tot sein. Es schläft nur, weil es müde ist«, erwidert Cora und erhebt sich von der Holzbank.
Der Fährmann schaut sie eine Weile schweigend an. Cora kehrt ihm den Rücken zu, um nach draußen zu gehen, als er sie, plötzlich hinter ihr stehend, anfaucht, als hätte er nicht ein kleines Mädchen, sondern ein ganzes Bataillon von Feinden in die Flucht zu schlagen:
»Ich habe mich lediglich darum zu kümmern, dass das Seil nicht reißt!«
Draußen auf dem Deck blickt Cora den wartenden Leuten entgegen, die sich auf dem Bootssteg versammelt haben. Kleine Kinder sitzen auf den Schultern ihrer Väter, triumphierend Ballons in die Luft haltend. Delphine und Krokodile schweben an den Schnüren.
Die Gesichter der Leute auf dem Steg und die alte Pfalzmauer dahinter rücken näher. Die Fähre schlägt mit einem tiefen Glockenschlag an den Steg. Ohne sich nochmals nach dem Fährmann umzublicken, steigt Cora zwischen den Leuten hindurch die Treppe zum Münsterplatz hoch. Immer lauter wird das Kreischen der Kinder, die auf dem Kettenkarussell durch die Luft geschleudert werden. Ihr vergnügtes Kreischen vermischt sich mit den schnellen dunklen Bässen der Musik und den harschen Stimmen aus den Lautsprechern. Cora stellt sich vor das Riesenrad hin, eine aufblinkende eiserne Sonne.
Mit einer Metallstange wird die Gondel verriegelt, Coras Füße baumeln über dem Profilboden, und langsam hebt das drehende Rad Cora in die Höhe.
Zuerst über die Messebuden und über die Kronen der Kastanien, über die Dächer der Häuser, hinaus über die Münsterturmspitzen, und immer weiter wird der Blick freigelegt über die Stadt und das hügelige Land dahinter.
Coras Blick schweift über das gegenüberliegende Flussufer, sie erkennt das Schulhaus, hinter dem sich das steil ansteigende Gebirge der chemischen Fabriken erhebt. Dazwischen liegt das Elternhaus. Durch die Fenster leuchtet eine vorwurfsvolle Helligkeit. Seit Cora sich erinnern kann, war es im Haus still gewesen. Das Schweigen kam aus den Wänden und aus den Gesichtern der Eltern. Dann hatte Mutter Lore die Violine geschenkt, und sie wiederholte das Wort »Rampenlicht« täglich beim Essen. Lore spielte Violine, als wollte sie damit ins Schweigen hineinbohren. Wenn Lore übte, hockte sich Cora mit Vorliebe auf die Türschwelle und blickte in Lores konzentriertes, ernstes Gesicht. Sie schickte die Musik wie ein großes Geschenk ins ferne Zimmer der Eltern. Mutter schleppte eifrig Lehrer und Notenbücher heran. Eines Tages hatte Lore unter dem verständnislosen Protest der Mutter den Notenständer zusammengeklappt und an die Wand gelehnt. Mutters zornige Rufe zerschellten an Lores verriegelter Zimmertür. Schließlich hatte sie mit der Begründung, »Wer nicht arbeiten will, braucht auch kein Licht!«, in einer raschen Aktion die Lampe aus Lores Zimmer weggeschafft und beim Essen das Licht so gedreht, dass Lore am Ende des Tisches im Dunkeln saß. Monatelang hatte Mutter energisch an den Lampen gedreht, Birnen ein- und ausgeschraubt, so dass im ganzen Haus die Wege Lores mit Schatten bedeckt waren.
Die Gondel mit Cora bleibt pendelnd im Zenit der Riesenradsonne stehen. Die Fähre ist jetzt in der Mitte des Flusses angelangt, ein winziges Boot, und die Leute, die auf dem Vordeck wie Trauernde sitzen, scheinen zu winken.
Spätestens morgen
Es war der Sommer, als John F. Kennedy jr. mit seiner Frau auf dem Weg zu einer Hochzeit in seinem Privatflugzeug auf der Höhe der Martha’s-Vineyard-Inseln in den Atlantischen Ozean stürzte. Es war ungewöhnlich heiß, und für Wochen war der Himmel über Manhattan wolkenlos. Als ich an jenem Morgen erwachte, war das Bett leer und die Decke neben mir zurückgeschlagen. Nur Pauls Hund Lucy, ein weißer
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