Terry Rotter und der Stein des Anstoßes
Kapitel 1
Der Junge, der überlegte
„Dass eine Geschichte schlecht ist, bedeutet nicht zwangsläufig, dass ich sie deshalb nicht mit Freuden lesen würde. Aber in den meisten Fällen schon.“
Bill Tür, Philosoph und Literat
Die Erde war noch immer blau. So weit, so gut. Doch es ließ sich nicht abstreiten: Normalerweise flogen keine spitzhütigen Leute auf ihr herum. Wahrscheinlich hatte unser Planet nur mal wieder zu tief ins Glas geschaut. Und auch einige der Besenreiter schwangen Sektgläser, während andere über dem Boden der Tatsachen - oder dem, was gestern noch Tatsachen gewesen waren - Mambo tanzten. Sie feierten den Fall eines dunklen Herrschers, ein übler Zeitgenosse war er gewesen. Hat Kindern ihre Süßigkeiten gestohlen und einst harmlose Hexenmeister von den Vorzügen der dunklen Seite der Macht überzeugt. Oder der Magie? Esoteriker waren nicht so kleinlich, was Definitionen betraf.
Doch eine Familie interessierte das herzlich wenig: Herr und Frau Thorsley, wohnhaft im Kreuzweg Nummer 4 in Berlin, waren einfach nur stolz darauf, deutsch zu sein, sehr stolz sogar. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sie könnten sich in eine mysteriöse Geschichte mit Fremden darin verstricken, denn mit solchem Unsinn wollten sie nichts zu tun haben. Insbesondere wenn Leute mit rosafarbenen Hüten darin vorkamen.
Das Leben jenes Ehepaares war von Ordnung und Disziplin bestimmt, des weiteren von teuren Autos und dreifach verstärkten Fenstergläsern. Von letzteren hätte man sich eigentlich gewünscht, dass sie das Leben der Thorsleys ein bisschen durchschaubarer machen würden. Aber eigentlich waren auch die durchsichtigen Gläser nur Teil einer undurchsichtigen Fassade - einer Fassade, die jenes unheimliche Geheimnis verbergen sollte, welches die Thorsleys nun schon seit Ewigkeiten bewahrten. Aber ich weiß es natürlich trotzdem, denn ich bin ja nicht umsonst der auktoriale Erzähler: Es ist nämlich so, dass sich einige ungewöhnliche Leute in ihrer Verwandtschaft befanden - Zauberer, um sie beim Namen zu nennen. Und Anwälte.
Die Thorsleys wohnten in einem Einfamilienhaus in Kreuzberg, Berlin. Das war möglich, denn die Gegend war nun nicht mehr so gefährlich wie früher. Bei meinem letzten Besuch bin ich immerhin nur zweimal zusammengeschlagen worden, anstatt fünf mal ermordet und drei Mal an Sklavenhändler verkauft, wie im Jahr zuvor. Eigentlich hatte ich nur Hütchen spielen wollen. Geld bei einem von Türken getürkten Spiel zu verlieren, wäre wenigstens eine mulitkulturelle Erfahrung gewesen. Was allerdings jeder wusste, der die Gegend kannte: In Kreuzberg gab es nach wie vor keine netten Einfamilienhäuser. Bis auf eines: Herr Thorsley hatte einfach einen Häuserblock Sozialwohnungen abreißen lassen, um seinen architektonischen Traum verwirklichen zu können. Es war zumindest in gestaltungstechnischer Hinsicht eine deutliche Verbesserung. Außerdem passten die Thorsleys ja auch ganz gut nach Kreuzberg, den weltweit einzigen Stadtteil, der zu 80% von Türken und zu 20 % von Neonazis bewohnt wurde.
Doch dann ereignete sich etwas, was das wohlgeordnete Leben der Thorsleys für immer verändern sollte. Gut, eigentlich veränderte sich nicht viel, es ist aber eine schöne Überleitung. Denn damals entdeckten sie einen Weidenkorb vor ihrer Türschwelle, aus dem ein niedliches Baby herauslächelte. Zunächst hatten die Thorsleys den schönen, Hand gearbeiteten Weidenkorb samt Inhalt einfach in den Müll werfen wollen, doch dann war Frau Thorsley aufgefallen, dass das weiße Baby einen Briefumschlag in der Hand hielt. Als Herr Thorsley den Umschlag öffnete, errötete er und sein Gesicht verzog sich zu einer merkwürdigen Grimasse. Letztere bedeutete, dass er zumindest ein bisschen Geld für jemanden ausgeben müssen würde. Oder, dass er etwas zu scharfes gegessen hatte, was man in diesem Fall jedoch ausschließen konnte. Und seine neue unfreiwillige Kapitalanlage trug den ehrfürchtigen Namen "Terry Rotter".
Terry hatte es trotz seiner Aufnahme in die Familie nicht leicht bei den Thorsleys: Er musste die meiste Zeit seines Lebens in seinem Zimmer, einem Besenschrank, verbringen. Dieser war vielleicht etwas knapp bemessen, aber Terry konnte immerhin darin schlafen, wenn auch nur in vertikaler Lage. Hin und wieder schob ihm Frau Thorsley sogar ein wenig Wasser und Brot unter der Hundeklappe hindurch. Er bekam gelegentlich auch etwas zum anziehen - Da Herr Thorsley
Weitere Kostenlose Bücher