Spektrum
Vornamen gegeben haben. Der Onkel selbst, obzwar ein eingefleischter Junggeselle, der auf alle Fragen nach Kindern barsch »Da versteh ich nichts von« antwortete, hielt es für geboten, allumfassend am Leben seines Lieblingsneffen teilzuhaben. Auf diesem Schlachtfeld hatte er letzten Endes nur einen Kampf verloren, nämlich den um den Namen. In allen übrigen Fragen vermochte er sich durchzusetzen. Mitunter fühlte Martin sich ihm deswegen von ganzem Herzen zu Dank verpflichtet, zum Beispiel, wenn er daran dachte, wie der Onkel sämtliche Pläne durchkreuzt hatte, ihn von klein auf Klavierstunden nehmen zu lassen, oder wie er für ihn eine Lanze gebrochen hatte, damit seine Eltern einem mehrtägigen Ausflug oder einem Trip per Anhalter mit Freunden nach Petersburg zustimmten. Alle Versuche seitens seiner Eltern, einen Disput vom Zaun zu brechen, hatte der Onkel mit einem finsteren Blick und der Frage quittiert: »Wollt ihr einen Mann oder einen Schlagersänger aus ihm machen?« Schlager verachtete sein Onkel abgrundtief, von allen Sängern ließ er einzig Kobson und Leontjew gelten, und auch die nur mit dem entschuldigenden Zusatz: »Wegen der Stimme und des Charakters.«
Bei aller Strenge des Charakters ließ der Onkel jedoch auch kleine menschliche Schwächen erkennen, welche insbesondere in den letzten zehn Jahren, da auf der gesamten Erde das Leben Kapriolen schlug, ins Auge sprangen. In ihm erwachten bislang schlummernde kulinarische Neigungen, und während er zuvor eine ganze Woche von Rührei und billigem Bier leben konnte, brachte er nunmehr halbe Tage am Herd zu, und abends lud er sich Freunde ein oder ging selbst zu Freunden. Martin genoss diese Schwäche, aufgrund derer sich die Besuche noch angenehmer gestalteten. Für den heutigen Abend suchte Martin, nachdem er seinen Onkel angerufen und in Erfahrung gebracht hatte, dass dieser zum Abendessen eine Ente Vajdahunyad auftische, ein Geschäft nahe der Metro auf, um dort kritisch den Wein auszuwählen. Selbstverständlich musste zu diesem Mahl ungarischer Rebensaft kredenzt werden. Mochten Ästheten und Patrioten spöttisch lächeln, sobald sie etwas von »ungarischem Wein« hörten, mochten die einen auf den süßlichen Sauternes und den herben Wein aus Tavel schwören, die anderen darüber streiten, wie viele Puttonyos aus Tokaj im Wein aus Massandra oder im ungarischen Tokajer verarbeitet waren. Martin hingegen vertrat seit geraumer Zeit die Überzeugung, jedes Essen verlange nach einem speziellen, der Geographie und Geschichte geschuldetem Akkompagnement. Zu Kartoffeln und leicht gesalzenen Heringen kann man sich nichts Besseres als russischen Wodka einfallen lassen, zu Basturma, diesen pikanten Fleischspießen, passt vollmundiger armenischer Kognak (obgleich die großherzige kaukasische Seele auch Wodka dazu gestattet), zarte Austern komplementiert leichter, gekühlter Weißwein aus Frankreich, zu fettigen und schwer im Magen liegenden Würstchen gehört tschechisches oder bayerisches Bier.
Insofern schwankte Martin bei der Wahl des Weins nicht. Er stellte sich in der kleinen Schlange an – vor ihm palaverten nur zwei nörgelige Rentnerinnen, die umständlich ein Stückchen spanischen Jamóns auswählten, »möglichst kräftigen«, und es geschnitten haben wollten, und zwar recht dünn – und wandte sich dann an die junge, müde Verkäuferin. Er kaufte je eine Flasche Weißwein vom Balaton und Rotwein aus Eger und plauderte, da hinter ihm niemand drängte, ein Weilchen mit der Frau. Sie machte einen netten und klugen Eindruck, studierte und jobbte abends in diesem Geschäft, damit sie im Sommer eine Reise durch Europa machen konnte. Binnen einer Minute erfasste Martin mit untrüglichem Instinkt, dass die junge Frau sich zwar angeregt mit ihm unterhielt, auch an einer Fortsetzung des Gesprächs Gefallen fände, an einer weiteren Bekanntschaft jedoch nicht interessiert war, da sie bereits einen trefflichen und treuen Freund hatte. Somit blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr einen Gruß zu entbieten und zu gehen, leise mit den Flaschen klirrend, die in Wellpappe eingeschlagen waren und in einer soliden Plastiktüte steckten.
Draußen war es angenehm. Über Moskau hatte sich der Abend gelegt, der erste richtige laue Sommerabend nach einem langen kühlen Winter. Dass es sich obendrein um einen Freitagabend handelte, steigerte sein Wohlbefinden zusätzlich. Der Strom der Autos, in denen die der Datscha entgegenfiebernden Stadtbewohner saßen, war
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