Spiegelkind (German Edition)
geschlossen, die Knie an den Bauch gezogen, und lande unsanft auf dem Hintern.
In dem Augenblick, in dem ich durch den Fensterrahmen fliege, denke ich daran, dass das Quadrum vielleicht längst nicht mehr in der Küche hängt, sondern eingepackt in einem Gefahrguttransporter ruckelt oder gerade in Flammen aufgeht. Daher bin ich erleichtert, dass die einzige Unannehmlichkeit ein unsanfter Knall gegen die Wand ist. Aber es ist immer noch Ksüs Küchenwand, es ist ihr Tisch, bloß das Quadrum hängt nicht mehr, sondern steht angelehnt und umgedreht neben dem Küchenschrank.
Ich helfe Ksü auf, die nach mir stöhnend auf die Dielen gepurzelt ist, ihre Hand hat sich im Flug an meine Schulter geklammert.
»Was ist passiert?«, fragt sie, nachdem sie sich wieder aufgerichtet hat.
Ich schaue mich um, sehe das Ausmaß der Verwüstung und bin sprachlos.
»Die haben uns gesucht.« Ksü schluckt. »Aber wenigstens haben sie sich nicht getraut, das Quadrum zu zerstören.«
Wir gehen über Scherben und zertretene Brotscheiben. Ksü passiert die Verwüstung gleichgültig, als wäre es gar nicht ihr Zuhause, das einmal so freundlich und geborgen gewesen ist, nachdem es schon einmal zerstört wurde. Wir haben keine Zeit. Wir suchen Ivan.
Ich schaue aus dem Fenster in den Garten. Abgebrochene Zweige und versengtes Laub bedecken die Wiese, Glasscherben glitzern in der Sonne, Stofffetzen flattern in den Bäumen. Die Spuren eines ungleichen Kampfes. Gegen wen haben die Polizisten gewütet, alle gegen Ivan, den sie doch schon in der ersten Minute niedergeknüppelt haben? Ksü zieht mich plötzlich am Ärmel und schaut auf die Uhr, die an der Wand hängt.
»Guck mal!«
»Was?«
»Die Uhr! Wir sind nicht einmal eine Stunde weg gewesen.«
»Vielleicht geht sie falsch?«
Die Uhr tickt gleichmäßig, der Sekundenzeiger zuckt im gewohnten Takt.
»Hinter dem Quadrum herrscht eine andere Zeit«, erinnert mich Ksü.
»Das ist gut«, sage ich.
Dabei gehe ich vom Schlechtesten aus: Ich bin überzeugt, dass die Polizei Ivan mitgenommen hat. Ich will es aber Ksü nicht klarmachen, sie soll diejenige sein, die zuerst zu diesem Schluss kommt. Solange will ich ihr helfen und gewissenhaft mitsuchen. Deswegen bin ich völlig überrascht, als Ksü laut ruft: »Hier ist er!«
Ivan liegt auf dem Rücken auf der Couch in einem der Nebenzimmer, einem schmalen Raum mit einer Wand, die man hinter Bücherregalen nicht erkennen kann, mit einem alten Tisch, auf dem irgendwelche vergilbten Blätter liegen, obwohl der Schreibtisch sicher seit Jahren nicht mehr benutzt wurde. Ksü kniet sich hin und greift nach Ivans Hand, tastet nach seinem Puls, presst das Ohr gegen seine Brust.
»Er atmet«, sagt sie. »Sie haben ihn einfach hier reingeworfen.«
Ich knie mich neben sie. Ivans Gesicht ist weiß und friedlich. Auf der Stirn hat er eine Platzwunde, das Blut ist schon angetrocknet. Ich nehme seine andere Hand, die quer über der Brust liegt, versuche, den Puls zu fühlen, aber ich weiß nicht genau, wie man das macht.
Ivan stöhnt und ich bin glücklich darüber. Er lebt.
»Ruf einen Arzt«, sage ich. »Ruf sofort einen Arzt.«
»Nein.« Ksü schüttelt den Kopf. »Sie werden ihn sterben lassen und nachher sagen, er wäre von Freaks überfallen und getötet worden und sie konnten nichts mehr für ihn tun.«
»Was schlägst du dann vor?«
»Wir müssen ihn zu deiner Mutter bringen.«
Sie zieht Ivan an einem Arm, will ihn an den Schultern hochzerren. Er stöhnt. Ich versuche, seine Beine anzuheben. Dass ein Mensch so schwer sein kann.
»Ksü, wir schaffen es nicht. Er ist zu schwer. Wir müssen das Quadrum hierherbringen und ihn reinschieben.«
Wir rennen polternd und stolpernd die Treppe hinunter.
Ich denke, dass auch das Quadrum so schwer sein wird, dass wir es nicht heben können. Ich kann nicht glauben, dass es wirklich einfach ein Gemälde ist, Öl auf Leinwand, dass man es verschieben, umdrehen, mit einem Messer zerschneiden kann. Zum Glück ist es heil und erstaunlich leicht und wir tragen es schnaufend die Treppe hoch und stellen es vor der Couch auf, auf der Ivan liegt.
»Meinst du, das funktioniert so?«, frage ich Ksü.
»Nie im Leben. Halt es näher.«
Ich drücke Ivans leblose Hand gegen die Leinwand. Nichts passiert.
»Es funktioniert nicht, Ksü«, sage ich.
»Musst du nicht einfach zuerst rein? Und ihn dann mitnehmen?«
»Ich zuerst?« Ich schaue auf den Rahmen. Ich habe es schon ein paarmal gemacht, aber mir ist immer noch
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