Nachtsafari (German Edition)
Prolog
E s war Juni, als sie sich kennenlernten. Die Schwalben zwitscherten auf den Dachfirsten, die Kastanien blühten, und Jasminduft hing süß und schwer in der warmen Luft. Bis an sein Lebensende würde dieser Duft Marcus an jenen Tag erinnern, bis an sein Lebensende würde er für ihn ein seelischer Zufluchtsort bleiben. Der Tag, an dem er sich unsterblich in Silke Ingwersen verliebte.
Er war geschäftlich von München nach Hamburg geflogen und auf der Suche nach der Adresse seines Geschäftspartners in eine ruhige Nebenstraße eingebogen. Dort fiel ihm ein quietschrotes Mini- Cabrio auf, das mit den Vorderrädern auf dem Bürgersteig parkte. Die Fahrertür stand offen, die Warnlichter blinkten. Er war schon fast vorbeigefahren, als er einen kleinen Jungen entdeckte, der weinend neben seinem zertrümmerten Rad hockte. Sofort stieg er in die Bremsen, fuhr die paar Meter zurück und sah genauer hin. Der Junge blutete aus mehreren Schürfwunden und zitterte vor Schock. Offensichtlich war das Kind angefahren worden.
Er schaltete ebenfalls den Warnblinker ein, sprang aus dem Wagen und ging vor dem Kleinen in die Hocke. Behutsam legte er ihm eine Hand auf die Schulter, spürte mit Genugtuung, wie das Zittern nachließ, die hastige Atmung sich beruhigte. Leise fragte er den Jungen nach seinem Namen und wo genau es ihm wehtue, als ihn eine wütende Frauenstimme unterbrach. Er fuhr herum.
Eine Frau – um die dreißig, sensationelle Figur, blondes, gelocktes Haar – hielt einen jüngeren Mann in Lederkluft und Fahrradhelm mit beiden Händen am Revers der Jacke gepackt und schüttelte ihn, obwohl er gut einen halben Kopf größer war als sie.
»Erst ein Kind anfahren und dann abhauen, Sie Schwein«, schrie sie den Mann an und schüttelte ihn noch einmal, dass Marcus hören konnte, wie ihm die Zähne klapperten. »Sie bleiben hier, bis die Polizei kommt, verstanden!«
Entgeistert starrte der Radfahrer auf die Frau herunter, schien so fassungslos zu sein, dass er nur Gestammel hervorbrachte.
»Was?« Aufgebracht zerrte die Frau an der Lederjacke.
Marcus stand auf, um ihr zu helfen, und erst in diesem Moment schien sie ihn zu bemerken. Prompt richtete sich ihr wutfunkelnder Blick auf ihn.
»Verdammt, glotzen Sie nicht so blöd! Rufen Sie die Polizei und einen Krankenwagen, Sie Trottel, und kümmern Sie sich um den Kleinen! Ich muss diesen Kerl hier daran hindern, sich aus dem Staub zu machen. Hiergeblieben!«, herrschte sie den Radfahrer an, als dieser versuchte, sich aus ihren Fäusten zu winden. »Fahrerflucht ist das«, fauchte sie und, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, bohrte ihm einen ihrer hohen, unangenehm spitzen Absätze in den Fußrücken.
»Und wenn Sie nicht gleich stillhalten, ramm ich Ihnen das Knie zwischen die Beine … Sie … Sie Fahrradterrorist!« Ihr Gesicht war krebsrot, ihre Augen schossen Blitze.
Das war der Augenblick, in dem Marcus sich unsterblich in sie verliebte.
Er hatte nur noch Augen für sie, registrierte kaum noch, dass die Polizei mit rotierendem Blaulicht und heulender Sirene er schien, kurz darauf ein Krankenwagen den Jungen abtransportierte und der Radfahrer in den Peterwagen verfrachtet und weggebracht wurde. Die Frau und er blieben allein zurück.
Über ihnen rauschten die uralten Kastanienbäume, der Jasmin duftete betörend. Ihre Augen waren blau. Nicht hellblau, nicht dunkelblau. Leuchtend blau wie die wilden Kornblumen auf den Wiesen in Bayern. Entrückt verlor er sich in der kornblumenblauen Tiefe.
»Was ist?«, raunzte sie ihn ungeduldig an. »Habe ich einen großen Pickel auf der Nase?« Sie wühlte in ihrer Umhängetasche.
Er riss sich zusammen. »Nein … natürlich nicht … Entschuldigung.« Ihm blieb die Stimme weg. Die Zunge klebte ihm am Gaumen. Mit steigender Verzweiflung überlegte er, wie er sie davon abhalten konnte, für immer aus seinem Leben zu verschwinden, da fiel sein Blick auf ein Restaurant auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er räusperte sich und verbeugte sich leicht. »Ich heiße Marcus, Marcus Bonamour … Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich brauche jetzt einen Kaffee oder etwas Stärkeres. Wie ist es – da drüben ist ein Italiener, der sieht doch ganz nett aus?«
Und morgen können wir dann heiraten, hätte er fast hinzugesetzt, hielt sich aber gerade noch zurück. Das Blut schoss ihm heiß ins Gesicht, und er hoffte inständig, dass sie das nicht merken würde.
Sie streifte ihn mit einem flüchtigen Blick.
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