Spiegelriss
dass mein Vater sie bei den Behörden angezeigt hat, um nach der Trennung Vorteile im Sorgerecht zu bekommen.
Es hat mich schon ein paar Mal gedrängt, einfach loszugehen und nach meiner alten Adresse zu suchen. Was würden die Nachbarn in dem Normalenviertel sagen, in dem ich aufgewachsen bin, wenn sie mich auf der Straße entdecken würden? Sie würden Fenster und Türen zuknallen und die Polizei rufen. Wiedererkennen würden sie mich nicht, so viel ist sicher. Auf unseren sauberen, normalen Straßen sind bestimmt immer noch ausschließlich Normale unterwegs. Eine Ausnahme war meine Mutter, die Phee, die versucht hatte, unauffällig normal zu leben, bis sie es nicht mehr aushielt und meinen Vater verließ.
Jetzt habe ich alles verloren. Mein Zuhause, meinen Vater, meinen Status, mein Leben. Und meine Familie: Meine Mutter und meine Geschwister sind weiter weg von mir, als ich es mir jemals vorstellen konnte.
Ich sehe ihre Gesichter vor mir, während ich weiterrenne und das Wort »Razzia« immer noch zwischen meinen Schläfen pulsiert. Zwischendurch habe ich fast vergessen, wovor ich überhaupt fliehe, als hätten mein Körper und meine Gedanken nichts miteinander zu tun. Meine Füße fliegen über die engen Bürgersteige zwischen den Hochhäusern. Der Wind pfeift in meinen Ohren. Ich werde das Gefühl nicht los, dass man mich verfolgt. Meine Kondition ist extrem schlecht: Auszehrung und Schlafmangel haben mich dünn und schwach gemacht. Das Seitenstechen wird von Schritt zu Schritt heftiger und in meinen Ohren pocht es hektisch. Ich schnappe nach Luft. Meine Füße spüre ich nicht mehr. Ich habe keine Ahnung, wo ich mich befinde. Gleich werde ich zusammenbrechen und dann haben sie mich eingeholt und es ist alles vorbei.
Doch kurz bevor ich auf den Asphalt sinke, höre ich die Stimme, mit der ich jetzt am wenigsten rechne.
»Jetzt halt doch mal an, Babyfuß.«
Ich schaffe es gerade noch bis zur einzigen nicht kaputten Laterne in dieser Straße und lehne mich mit dem Rücken dagegen. Ich schnaufe wie dreihundert Nilpferde und drücke mir die Hände gegen die schmerzenden Rippen. Kojote steht vor mir, er ist nicht einmal außer Atem.
»Wo soll es denn hingehen?«
»Du hast doch gesagt, wir müssen abhauen«, presse ich zwischen den Zähnen hervor. »Also bin ich losgerannt.«
»Einfach drauflos?«, fragt er. Ich muss ihm extrem schwachsinnig vorkommen.
»Ja. Ich kenne mich nicht aus.«
»Kennst du dich denn überhaupt irgendwo auf dieser Welt aus, Babyfuß?« Er sieht mich voller Mitleid an.
Ja, denke ich. Es gibt etwas, wo ich mich ausgekannt habe. Es war der Wald, von dem ich dachte, dass meine Mutter ihn gemalt hat. Bis sie mir erklärt hat, dass das nicht sein kann. Auch eine malende Phee kann keinen Wald erschaffen. Sie kann bloß die Zugänge bauen. Die Quadren sind die Tore.
Der Wald gehört nicht meiner Mutter, er ist einfach da. Wie kann der Wald jemandem gehören, hatte sie gesagt, als ich sie danach gefragt hatte.
Bevor ich in diesen Wald hineinkam, war ich seit Jahren nicht mehr in einem richtigen Wald gewesen. Am Anfang hatte er mir Angst gemacht, wie so ziemlich alles, was ich in meinem früheren normalen Leben nicht kannte. Ein paar Mal hatte ich mich böse verlaufen und Dinge erlebt, die sich wie Albträume anfühlten, aus denen ich nicht mehr aufwachen konnte. Ich hatte den Wald für feindselig gehalten und voll düsterer Geheimnisse.
Bis mir ein seltsamer Gedanke gekommen war: Der Wald und ich, wir sind uns näher, als ich zuerst vermutet hatte.
Und dann hörte ich sofort auf, mich zu verlaufen, und der Wald hörte auf, mich zu ängstigen und in die Irre zu führen.
Und dann dauerte es gar nicht mehr so lange und ich machte wieder alles kaputt.
»Ich kenne mich nirgends aus«, sage ich und schaue in Kojotes Augen. Wäre es heiß, denke ich, wäre dieser kühle Blick richtig wohltuend. Aber es ist nicht heiß und ich zittere nur noch heftiger.
»Ich weiß«, sagt er. Er legt die Hand von hinten auf meinen Hals, wieder komme ich mir so vor, als wäre ich sein Hund. Ich bin trotzdem froh, dass er da ist. Ich bin so allein, wie man es nur sein kann, und dass er noch nicht weggelaufen ist und mich einfach zurückgelassen hat wie alle anderen, kommt mir wie ein Wunder vor.
Andererseits macht mir seine Anwesenheit auch Angst. Er ist sehr schlau. Man darf ihn nicht unterschätzen. Vielleicht weiß er doch mehr über mich, als er sich bisher hat anmerken lassen. Vielleicht will er mich in
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