Spiegelriss
Sie haben das Haus gekauft und wissen vielleicht gar nicht, wer vorher drin gewohnt hat.«
»Sie haben das Haus gekauft, weil es günstig war.« Kojote spuckt wieder aus. »Sie haben alles übernommen – die Möbel, unser Geschirr, der kleine Scheißer schläft jetzt in meinem Bett. Sie fanden das praktisch. In der Garage steht das Auto meines Vaters. Erzähl mir nicht, dass sie sich nicht denken konnten, warum jemand alles verkauft, und das zu einem Spottpreis.«
Ich hebe die Hand an und muss plötzlich an meine Mutter denken. Sie hätte ihm jetzt die Hand auf die Schulter gelegt. Ich lasse meinen Arm wieder sinken. Ich habe Kojote noch nie so wütend gesehen. Und ich rufe mir mein früheres Zuhause in Erinnerung, das ich nicht mehr betreten habe, seit ich den letzten Atemzug meines Vaters gehört habe. Wem gehört nun das alles? Wer wohnt dort? Diese Fragen habe ich mir nie gestellt. Ich war zu lange dort, wo solche Fragen keine Rolle spielen.
Plötzlich wird mir etwas mit erschreckender Deutlichkeit klar. Es war falsch, sich für diese Dinge nicht zu interessieren. Was ist zum Beispiel mit den Quadren meiner Mutter passiert, die bei uns zu Hause hingen? Sie waren angeblich ein Vermögen wert. Und ich könnte mit ihrer Hilfe versuchen, in den Wald zurückzukommen. Ein Gedanke, den ich bis jetzt verdrängt habe. Würde mich der Wald akzeptieren, wenn ich ein Quadrum vor mir hätte und mit einem Schritt wieder bei meiner Familie sein könnte?
Wenn wir jetzt vor Kojotes altem Haus stehen, müsste es auch möglich sein, auf ganz normalem Wege in mein früheres Viertel und mein früheres Zuhause zu gelangen.
Ich versuche mich zu erinnern, was wir am Lyzeum über die Erbfolge gelernt haben. Wenn einer der Eheleute stirbt, erben die Ehegatten und die Kinder. Bei uns dürfte es etwas komplizierter sein. Mein Vater ist tot, aber angeblich war er gar nicht mein richtiger Vater. Zudem waren meine Eltern zum Zeitpunkt seines Todes schon geschieden. Meine Mutter ist eine Phee und nach mir wird gefahndet. Und was ist mit meinen kleinen Geschwistern, den Zwillingen Kassie und Jaro? Stehen Pheenkinder unter Pauschalverdacht, werden auch sie verfolgt wie ich, die angebliche Mörderin? Sind sie berechtigt zu erben? Garantiert nicht.
Meine Großeltern, denke ich plötzlich. Die Eltern meines Vaters, Ingrid und Reto. Wenn wir Kinder als Erben nicht infrage kommen, sind meine Großeltern dran. Sie bekommen alles, was mein Vater einmal besessen hat. Was würden sie sagen, wenn ich plötzlich vor ihrer Haustür auftauchen und sie bitten würde, mir eines der von ihnen so verhassten Quadren zu geben? Sie haben vielleicht auch gar kein einziges behalten, sondern sie allesamt entsorgen lassen.
Ich erinnere mich an unsere letzte Begegnung. Wahrscheinlich würden sie mich sofort an die Polizei ausliefern.
Es gibt noch zwei Namen, an die zu denken, ich mir die ganze Zeit verboten habe, weil ich den Gedanken nicht ertragen kann, dass sie vielleicht im Wald verbrannt sind. Ksü und Ivan.
Vielleicht haben sie ja doch überlebt. Vielleicht sind sie, so wie ich auch, rausgeflogen. Vielleicht sind sie gerade zu Hause und warten auf mich. Zum ersten Mal erlaube ich der Hoffnung, aufzukeimen und mich langsam in Beschlag zu nehmen. Bis jetzt hatte ich zu viel Angst davor, Dinge zu erfahren, von denen ich mich nicht mehr hätte erholen können. Jetzt will ich es wissen.
Ich sehe Kojote von der Seite an und weiß nicht, ob ich ihm dankbar dafür sein soll, dass er mich ins Leben zurückgeholt hat, indem er mir sein früheres Zuhause zeigte.
In meinen ersten fünfzehn Lebensjahren war ich in der Nacht kaum jemals wach. Ich ging immer zur gleichen Zeit ins Bett und schlief sofort ein. Am Morgen riss mich der Wecker aus dem Schlaf und ich kannte kein anderes Gefühl, als ständig unausgeschlafen zu sein.
Dann war ich im Wald und es schien, als wäre die Trennlinie zwischen Schlaf und Wachsein verschwunden. Ich fühlte mich leicht und beschwingt und meine Augen waren meist offen.
Nach dem Feuer, zurück in der Normalität, ging es mir ähnlich, nur mit dem umgekehrten Vorzeichen. Wieder hatte ich ständig das Gefühl zu träumen, diesmal aber schlecht. Ich hielt trotzdem die Augen geschlossen, wann immer es ging, um nicht zu viel von meiner Umgebung mitzubekommen. Ich wollte nichts mehr damit zu tun haben. Mein ganzer Körper fühlte sich auch in jeder Bewegung bleischwer an. Ich hatte mich während der Zeit im Rudel daran gewöhnt, dass die
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