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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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zwischen den Stadtteilen bewachen. Das Rudel kennt Schlupflöcher und auch ich bin schon öfters durch auseinandergeschobenen Stacheldraht geklettert und habe dabei Fetzen meiner Lumpen und meiner Haut am Zaun hinterlassen.
    Einige im Rudel haben schon Erfahrung mit den prophylaktischen Verhaftungen von »Personen ohne ID« gemacht – eine relativ neue Maßnahme der öffentlichen Sicherheit, die darin besteht, drei Nächte hintereinander auf engstem Raum mit ähnlich aggressiven, hungrigen Wesen eingesperrt zu sein, um dann ohne eine Erklärung wieder freigelassen zu werden. Ohne ID ist man automatisch ein Freak und ein öffentliches Ärgernis.
    Aber immer noch besser das als eine Phee.
    Ich starre das Armband auf Kojotes Handgelenk an. Das kann nicht sein, denke ich, er hat es jemandem geklaut. Aber kein Normaler lässt sich einfach so ein Armband klauen.
    Es gibt nur eine Möglichkeit. Als ich daran denke, mache ich automatisch einen Schritt weiter weg von Kojote.
    »Wo hast du es her? Hast du seinen Besitzer umgebracht?«
    Er sieht mich an, als wäre ich wahnsinnig. Dann seufzt er und schiebt den Ärmel über das silbrige Band.
    »Es ist mein Armband«, sagt er müde. »Eine kleine Erinnerung an das Leben, das ich mal hatte.«

Hinter Stacheldraht
    Wir stehen vor dem zweistöckigen Haus mit einem flachen Dach. Wir sind Stunden durch die Stadt gelaufen, die Nacht lichtet sich wieder etwas. Meine Beine zittern: Es ist das erste Mal seit längerer Zeit, dass ich wieder in einem Normalenviertel bin. Kojote hat mir ein Loch im Maschendrahtzaun gezeigt und geholfen, durch die Lücke zu klettern.
    »Kommst du öfters hierher?«, frage ich.
    »Nein.«
    Ich kralle mich an Kojotes Ellbogen fest und lege den Kopf in den Nacken, um das Haus besser sehen zu können. Direkt über meinem Gesicht ist das Straßenschild. Die Straße ist nach Henry Aneko benannt, ich erinnere mich dunkel, dass es ein Widerstandskämpfer gegen irgendwas aus früheren Zeiten war. Straßen, die Namen haben, sind ziemlich altmodisch. Heute tragen sie fast immer Codes aus Zahlen und Buchstaben, ich zum Beispiel habe in der Straße XX42 gewohnt.
    Irgendwo in der Ferne bellt ein Hund. Es klingt nicht nach einem kleinen Mops, ist ein tiefes, bedrohliches Bellen. Die Grenzen zwischen den Stadtteilen werden neuerdings mit abgerichteten Hunden bewacht, das hat man im Rudel erzählt. Es gibt eine neue Züchtung, eine Rasse kurzbeiniger schwarzer Tiere, die ihre Kiefer nicht mehr lösen, wenn sie einmal zugebissen haben. Man erkennt sie an dem typisch heiseren Bellen.
    »Hattet ihr einen Hund?«, frage ich Kojote.
    Er schüttelt den Kopf. »Wir hatten eine Schildkröte. Macht weniger Dreck.«
    »Wie alt bist du eigentlich?«
    »Und du?«
    Wir schweigen beide, als hätten wir uns eine indiskrete, ja verbotene Frage gestellt. Als hätte Kojote mir nicht gerade viel privatere Dinge erzählt. Dass auch seine Familie zerbrochen ist und sie alle aus dem Haus ausziehen mussten – dem Haus, vor dem wir jetzt stehen.
    Die gelben Laternen werfen runde Lichtkreise auf den Asphalt. Ich luge über den Zaun in den Garten, auf die rechteckigen Beete, die schon winterfest abgedeckt sind. Die Rollläden sind heruntergelassen, das Garagentor ist zu.
    »Hier wohnt doch jemand«, sage ich.
    »Natürlich«, sagt Kojote bitter. »Eine andere Familie. Vater, Mutter, ein Sohn.« Er spuckt auf den Boden. »Alle schön normal… vorerst.«
    Ich sehe ihn an. »Wie lange lebst du schon auf der Straße?«
    »Ich führe keinen Kalender«, sagt er, seine Stimme ist voller Hass und ich trete wieder einen Schritt zur Seite, obwohl ich weiß, dass dieses Gefühl nicht mir gilt.
    »Aber du bist doch öfters hier.«
    »Ich komme manchmal nachts. Wenn mich einer tagsüber hier sieht, dann ruft er sofort die Polizei. Ich bin schon einmal verwarnt worden, das nächste Mal werde ich eingesperrt, darauf kann ich verzichten. Außerdem will ich nicht, dass man meine ID entwertet. Solange es geht, will ich das Ding behalten. Wegwerfen kann ich es später immer noch.«
    »Aber du hast früher hier gewohnt. Du hast sogar noch das Armband. Können sie nicht ein bisschen Rücksicht auf deine Gefühle nehmen?«
    Er lacht.
    »Ich habe dich für einen Freak gehalten«, gestehe ich.
    »Inzwischen bin ich einer«, sagt er. »Armband hin oder her. Ich hasse das alles hier. Wenn ich könnte, würde ich sie umbringen.«
    »Wen? Die Leute, die hier eingezogen sind? Sie können doch am wenigsten für dein Unglück.

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