Spiegelschatten (German Edition)
andere– und gegen sich selbst.
Er wusste, worauf sie hinaus wollte, wäre gern vor ihr geflohen. Weg. Weit, weit weg. Egal wohin. Er presste die Fäuste gegen seine Schläfen, als könnte er sie so aus seinem Kopf vertreiben.
Er hat den Tod verdient.
» Hör auf …«
Ich bin bereit, dir dein Leben zu schenken. Aber er muss sterben.
Er hörte sich wimmern, fühlte, wie sie sich in ihm ausbreitete. Bald würde sie vollkommen Besitz von ihm ergriffen haben. Ihren Hass in seinem Innern versprühen.
Bis er ihn selbst spürte …
*
Die Bäume bogen sich im Wind. Ingo wusste, dass er das Tempo, mit dem sie über die Autobahn bretterten, nicht verantworten konnte. Aber Romys unumstößliche Gewissheit, dass ihr Bruder sich in Gefahr befand, durfte er nicht ignorieren.
Wie versteinert saß sie neben ihm, tief in Gedanken versunken.
» Warum rufst du ihn nicht nochmal an?«, fragte Ingo, der sich eigentlich vorgenommen hatte, ihr keine Fragen zu stellen, der ihr einfach v ertrauen und bei ihr sein wollte, damit ihr nichts geschah.
» Hab ich versucht«, antwortete sie kläglich. » Er geht nicht ran.«
» Und wenn du ihm eine Mail schickst?«
» Hab ich gemacht. Er antwortet nicht.«
Ingo merkte, dass es sie enorme Überwindung kostete, nicht in Tränen auszubrechen. » Dafür gibt es bestimmt eine harmlo se Erk lärung«, tröstete er sie, obwohl er nicht einen Moment lang daran glaubte. Er zögerte. » Und wenn wir die Polizei informieren?«
» Was willst du ihnen sagen? Dass sie wegen einer Vorahnung zwei Beamte in dieses Sauwetter schicken sollen? Wo bei den Sturmschäden, die in dieser Nacht erwartet werden, jede Hand gebraucht wird?«
» Stimmt.«
Das Wort kam ihm vor wie ein Pistolenschuss.
Sein Cabrio flog dahin und er schickte stumme Bitten in den Himmel.
Gott, hilf uns, das unbeschadet zu überstehen …
Lass den Orkan die Richtung wechseln …
Ingo hatte schon Bäume gesehen, die von Orkanböen geknickt worden waren wie Streichhölzer.
Romy legte sich die Hände aufs Gesicht. Als wollte sie nichts mehr sehen, hören, fühlen. Sie war weit weg in diesem Augenblick. Und ihm näher als je zuvor.
*
Björn fielen die Augen zu. Immer wieder nickte er ein und schreckte davon hoch, dass ihm das Kinn auf die Brust sackte.
» Geh doch schlafen«, sagte Maxim, der jetzt hellwach vor dem Fernseher hockte und Jackie Chan dabei zusah, wie er Männer in dunklen Anzügen vermöbelte.
Björn mochte Jackie Chan und seinen augenzwinkernden Humor, aber nicht jetzt. Der Sturm heulte ums Haus und fing sich im Kamin.
Als ginge die Welt unter, dachte Björn.
Maxim beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Vielleicht wartete er darauf, dass Björn sich zurückzog. Vielleicht brauchte er ein bisschen Zeit für sich allein. Bestimmt fühlte er sich hier wie in einen Käfig gesperrt.
Maxim, die Raubkatze, rastlos und nervös.
» Wenn du allein zurechtkommst…«
» Klar«, sagte Maxim. » Wenn was ist, kann ich dich ja rufen.«
Björn gab ihm einen Kuss und blickte sich suchend um. » Wo ist mein Handy?«
Maxim hob die Schultern. » Hast du wohl irgendwo liegen lassen.«
Doch das konnte nicht sein. Björn trug es immer bei sich, und wenn er schlief, lag es neben seinem Bett. Das hatte er sich angewöhnt, als Romy und er beschlossen hatten, in unterschiedliche Städte zu ziehen.
Er lief durch sämtliche Räume, ohne sein Handy zu finden. Wann hatte er es zum letzten Mal benutzt? Als er mit Romy telefoniert hatte, so gegen neun. Und dann? Wo hatte er es hingelegt?
» Hast du es vielleicht…«
» Du weißt, dass ich dein Handy nicht anrühre.« Maxim richtete sich auf und verzog vor Schmerzen das Gesicht. » Soll ich dir suchen helfen?«
Vielleicht war es runtergefallen und unter ein Möbelstück gerutscht? Aber das hätte man doch hören müssen.
Erst jetzt bemerkte Björn es. » Und mein Laptop? Wo ist der?«
» Der ist ja nun nicht zu übersehen«, sagte Maxim mit leichtem Vorwurf in der Stimme und rappelte sich umständlich auf.
Sie suchten, aber sie fanden ihn nicht, konnten ihn in den übrigen Räumen gar nicht finden, denn Björn hatte ihn nur im Wohnzimmer benutzt und in kein anderes Zimmer mitgenommen. Fröstelnd zog er die Schultern noch.
Erschöpft sank Maxim aufs Sofa zurück. Die Suchaktion hatte ihn überanstrengt.
Björn blickte sich beklommen um.
» Erst Minette. Dann mein Handy. Und nun mein Laptop… Maxim, hier stimmt was nicht.«
Das alte Haus verursachte ihm von Stunde zu Stunde
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