Spiegelschatten (German Edition)
beherrschte.
Sie hatte sich verändert, seit sie in die Schauspielschule aufgenommen worden waren. Zwar trug sie noch immer ihr geliebtes Gothic-Outfit, aber sie hatte die zuvor zur Hälfte kurz geschnittenen, zur Hälfte geschorenen Haare wieder wachsen lassen. Sie reichten ihr mittlerweile bis zum Kinn und umrahmten ihr weiß geschminktes schmales Gesicht weich schimmernd und verführerisch.
Lusina gab sich immer noch als dark lady. Doch sie durchbrach das tiefe Schwarz von Haar und Kleidung und das finstere Blau und Braun von Nagellack und Lippenstift je nach Stimmung mit einem kirschroten, quittegelben oder frühlingsgrünen Accessoire– einer Mütze, einem Tuch, einer Kette oder einem funkelnden Ring.
Die anderen Mädchen fingen an, ihren Stil nachzuahmen, aber sie reichten nicht an sie heran.
Lusina war einzigartig.
» Ist es nicht schön hier?«, murmelte sie und schaute verwundert umher.
Sie tastete wieder nach Calypsos Hand, und Calypso spürte, wie sein Herz klopfte. Ihre Finger verschränkten sich ineinander. Still gingen sie nebeneinander her.
Als Calypso das Handy in seiner Jackentasche vibrieren fühlte, reagierte er nicht. Er hatte den Eindruck, sich in einem Traum zu bewegen und er wollte um nichts in der Welt daraus erwachen.
*
» Okay.« Greg rieb sich das unrasierte Kinn. » Wo nichts ist, kann man nichts holen.«
Romy hatte das Gefühl, versagt zu haben. Vielleicht hätte sie mehr über den Mord an Leonard Blum herausgefunden, wenn die Wut auf Maxim ihre Gedanken nicht vernebelt hätte.
» Ich könnte noch mal im Germanistischen Seminar…«
Greg schüttelte den Kopf. » Dein Instinkt war richtig. Du erfährst mehr, wenn du dich hinter den Kulissen umhörst.«
» Und wenn ich diesen Professor, bei dem Leonard Assistent gewesen ist…«
Gregs kurzes Stirnrunzeln zeigte ihr, dass ihm nicht entgangen war, wie selbstverständlich sie den Vornamen des Mordopfers benutzt hatte. Ständig übertrat sie ungeschriebene Gesetze. Eines davon besagte, dass man immer die nötige Distanz wahren sollte.
» Wir warten ab«, entschied er. » Sollte sich etwas Neues ergeben, bleiben wir dran, aber im Augenblick halte ich weitere Recherchen für Zeitverschwendung.«
Romy wusste, dass er recht hatte. Sie war erleichtert, dass er keine weiteren Fragen stellte.
» War’s das?«, fragte sie und erhob sich schnell vom Stuhl, als Greg nickte. Er hatte sich bereits wieder über seinen Computer gebeugt und merkte nicht einmal, wie sie sein Büro verließ.
Wenige Minuten später saß Romy im Alibi, ihren Laptop vor sich auf dem Tisch, nippte an einem Milchkaffee und arbeitete Gregs Anmerkungen in ihr Interview mit Norman Forsyte ein. Da es heute nicht so voll war, fiel es ihr leicht, sich zu konzentrieren, und nach einer Stunde lehnte sie sich mit einem zufriedenen Seufzer zurück.
Sie schaute auf die Uhr. Fünf nach halb acht.
Wieso war Cal noch nicht hier? Sein Dienst als Kellner fing um halb an und er war eigentlich immer pünktlich. Sie versuchte noch einmal, ihn anzurufen, doch er ging wieder nicht ran. Hatte er das Handy irgendwo abgelegt und hörte es nicht? Oder hatte er es wieder mal verschusselt?
Cal und sein Handy, das war eine endlose Geschichte, und sie war nicht lustig. Romy wollte mit den Menschen, die sie liebte, gern in Verbindung sein. Sie musste nicht ständig anrufen und wollte selbst keinesfalls ständig angerufen werden, aber sie wusste gern, dass es jederzeit möglich wäre.
Ihr Magen knurrte, und sie bestellte sich bei dem Mädchen, mit dem Cal eigentlich für die Abendschicht eingeteilt war, ein Sandwich und einen zweiten Milchkaffee.
» Was ist mit Cal?«, fragte das Mädchen. Sie war neu im Alibi und Romy hatte ihren Namen wieder vergessen. » Ich schaff das hier nicht allein, und wenn der Chef merkt, dass Cal nicht da ist, gibt’s Ärger.«
Das Alibi hatte streng genommen nicht nur einen Chef, sondern zwei, Giulio und Glen, ein schwules Paar, das aus diesem ehemals heruntergekommenen Bistro mit viel Fantasie und Geschick eine Goldgrube gemacht hatte. Beide waren als gutmütig und freundlich bekannt, doch sie waren auch Geschäftsleute, und Cal hatte schon einige Male erlebt, dass sie durchaus ungemütlich werden konnten.
Um acht, Romy hatte ihr Sandwich längst verspeist, kam Ingo Pangold an ihren Tisch und ließ sich auf einen der freien Stühle fallen.
» Hallo, Schatz! Was für ein Tag!«
Romy wurde nicht gern Schatz genannt, erst recht nicht von Ingo, und sie
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