Spiegelschatten (German Edition)
die enge Bindung an ihren Zwillingsbruder sie gerade wieder einmal in größte Schwierigkeiten.
Er wählte ihre Nummer.
» Romy Berner«, meldete sie sich mit einem fragenden Unterton in der Stimme.
» Melzig hier. Guten Abend, Frau Berner.«
» Hallo, Herr Kommissar.«
An den Hintergrundgeräuschen konnte er erkennen, dass sie im Auto telefonierte. Hoffentlich mit Freisprechanlage, dachte der Polizist in ihm.
» Wir haben heute Ihre Kollegen und Kolleginnen zu dem Drohbrief befragt, den Sie erhalten haben«, erklärte er. » Und zu dem nächtlichen Besuch in Ihrer Wohnung.«
» Ohne Ergebnis«, vermutete sie. » Das habe ich Ihnen ja gleich gesagt. Meine Kollegen lieben mich nicht, aber sie würden mir kein Haar krümmen.«
» Sicher?«
» Vielleicht gibt es jemanden in der Redaktion, der versuchen würde, mir Angst einzujagen. Aber derjenige, der mir den Drohbrief zugespielt hat und in meine Wohnung eingedrungen ist, hat vier Menschen getötet, Herr Kommissar. Dazu hätte doch keiner meiner Kollegen einen Grund gehabt.«
» Es ist nicht erwiesen, dass der Verfasser der Drohbriefe an Sie und Ihren Bruder, der Eindringling und der Täter ein- und dieselbe Person sind. Hören Sie auf, sich unseren Kopf zu zerbrechen, Frau Berner.«
» Ich recherchiere bloß, Herr Kommissar, und rechne eins und eins zusammen.«
» Und bringen sich in akute Lebensgefahr, weil Sie dem Täter vielleicht schon viel zu nahe gekommen sind.«
Darauf antwortete sie nicht. Bert wollte das Gespräch bereits beenden, weil er dachte, die Verbindung sei unterbrochen, da sagte sie auf einmal: » Ich mach keinen Unsinn, ehrlich, Herr Kommissar. Ich tue bloß meine Arbeit.«
Bert hoffte von ganzem Herzen, dass sie sich an ihr Versprechen hielt, doch glauben, konnte er es nicht.
*
Björn saß im Wohnzimmer, seinen Laptop auf dem Schoß, und surfte im Internet. Hin und wieder gab Maxim im Schlaf einen Laut von sich. Die Heizkörper im Wohnzimmer und in der Küche gluckerten. Der Wind draußen schien zu Sturmstärke anzuwachsen.
Tatsächlich hatte der Wetterdienst für die Nacht Orkanböen vorhergesagt, und Björn betete, dass das Haus stabil genug sein möge, um ihnen zu widerstehen. Vielleicht sollte er die Rollläden herunterlassen, doch es widerstrebte ihm, das spärliche Licht, das es draußen noch gab, auszusperren.
Schlimmer als die Angst vor dem Mörder selbst war nur die Angst, ihm im Dunkeln zu begegnen.
Etwas sagte Björn, dass die Situation sich zuspitzte.
Er hatte einmal einen Film gesehen, in dem ein Löwe eine Antilope gerissen hatte. Die Antilope hatte ihn gewittert, lange bevor er zum Angriff übergegangen war. Immer wieder hatte sie beim Grasen innegehalten, aufmerksam den Kopf gedreht, alle Muskeln und Sehnen zur Flucht angespannt.
So ähnlich fühlte Björn sich jetzt. Nur war an Flucht überhaupt nicht zu denken, solange Maxims Zustand sich nicht gebessert hatte.
Björn reckte sich. Dann stand er auf und drehte die Heizung höher. Das Haus war ausgekühlt. Man spürte die Kälte, sobald man sich eine Zeit lang nicht bewegte. Sie legte sich einem auf die Schultern und biss einen in die Zehen.
Die ausgepresste Apfelsine hatte Küche und Wohnzimmer mit ihrem Duft erfüllt. Nachdem Maxim sofort eingeschlafen war, hatte Björn den Saft getrunken. Dabei besaß er Energie im Übermaß. Er hatte ein fast unbezähmbares Bedürfnis danach zu laufen, sich auszupowern, für eine Weile keinen Gedanken an den Mörder zu verschwenden.
Aber er wagte es nicht, Maxim allein zu lassen. Er traute sich auch, wenn er ehrlich war, ohne ihn nicht aus dem Haus. Nicht bei dieser Witterung, bei der wahrscheinlich keine Menschenseele unterwegs war.
Er fing an, sich zu langweilen, und überlegte, den Fernseher einzuschalten. Maxim würde bestimmt nicht wach werden, wenn er den Ton so leise wie möglich drehte. Er nahm gerade die Fernbedienung in die Hand, als er einen Schatten im Flur vorbeihuschen sah.
Sein Herz schien sich zusammenzuziehen. Es hielt ganz still. Auch der Sturm draußen war auf einmal nicht mehr zu hören.
Der Schatten war dicht über den Boden geglitten, und Björn erinnerte sich an eine schreckliche Geschichte, in der verlorene Seelen so durch die Räume der Lebenden irrten. Sie hatte ihn eine Kindheit lang verfolgt. Nun war sie wieder da.
» Maxim?«, flüsterte er.
Doch Maxim wurde von anderen Schrecken bedrängt. Seine Finger hatten sich in die Decke gekrallt, so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.
Es
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