Spiegelschatten (German Edition)
gibt für alles eine Erklärung. Björn zwang sich zum Nachdenken. Du musst sie nur finden.
Die Wahrscheinlichkeit, dass der Schatten zu einer verlorenen Seele gehörte, war äußerst gering. Der Schatten eines Menschen konnte es auch nicht gewesen sein. Hatte Björn also ein Tier gesehen? Den Marder vom Dachboden?
Eine Ratte?
Seit Björn den Roman 1984 von George Orwell gelesen hatte, drehte sich ihm beim bloßen Gedanken an Ratten der Magen um. Er wusste, dass sie sogar Menschen angriffen, wenn man sie in die Enge drängte.
Trotzdem musste er nachsehen. Er konnte nicht hier sitzen bleiben, als sei der Schatten eine Fata Morgana gewesen, die sich von selbst auflösen würde. Vorsichtig erhob er sich, nahm den Schürhaken vom Ständer mit dem Kaminzubehör und schlich auf Zehenspitzen zur Tür.
Dunkel und fremd lag der Flur vor ihm. Björn hätte am liebsten die Tür zugeschlagen und sich mit Maxim im Wohnzimmer verbarrikadiert. Er konnte sich nicht vorstellen, auf ein Tier einzuschlagen, selbst dann nicht, wenn es die Zähne fletschte.
» Scheiße«, flüsterte er.
Seine Hand war glitschig von Schweiß. Er konnte den Schürhaken gar nicht richtig packen, und als der Schatten sich ihm plötzlich blitzschnell näherte, hätte er seine Waffe fast fallen lassen.
Der Schatten strich ihm um die Beine und schnurrte vorsichtig.
» Minette…« Björn warf einen Blick zum oberen Treppenabsatz und sah die Tür zum Arbeitszimmer offen stehen. Hatte er sie nicht richtig zugemacht?
Die Erleichterung war so groß, dass sie wehtat. Björn ging in die Hocke und streichelte die Katze, die sich unter seiner Hand wegduckte, um gleich darauf zögernd wieder näher zu kommen. Ihr Ausflug hatte sie verängstigt, genau wie ihn.
» Komm«, lockte Björn sie liebevoll und hielt ihr die Tür zum Wohnzimmer auf.
Sie machte sich lang, wagte den ersten Schritt, dann den zweiten, mehr kriechend als laufend und dicht am Boden, als fände sie nur da ein wenig Sicherheit.
Und draußen tobte der Sturm und schleuderte Regen gegen die Fensterscheibe.
» So ist’s gut«, lobte Björn die Katze leise. » Immer ein kleines Stück weiter.«
Er fragte sich gerade, ob er die Tür schließen sollte, um zu verhindern, dass Minette im ganzen Haus umherirrte, als sie plötzlich fauchte und voller Panik an ihm vorbeischoss, zurück in die schützende Dunkelheit des Flurs.
Irritiert sah Björn sich um.
Was, zum Teufel, hatte sie so sehr erschreckt?
Er ging in den Flur und rief nach ihr. Doch sie antwortete nicht. Hatte sich irgendwo verkrochen und stellte sich tot.
*
Es war ein seltsames Gefühl, den Schlüssel aus der Tasche zu ziehen und Ingos Haustür aufzuschließen. Romy verzichtete darauf, den Fahrstuhl zu nehmen und stieg die Treppen hinauf. Vor Ingos Wohnungstür angelangt, klingelte sie.
» Du hast doch einen Schlüssel«, sagte Ingo, als er ihr öffnete.
» Ich glaube, ich muss mich erst noch daran gewöhnen.«
Er lachte und gab ihr zur Begrüßung einen Kuss auf die rechte und einen auf die linke Wange. Dann lief er in die Küche, aus der ein köstlicher Duft ins Wohnzimmer zog.
Romy stellte Tasche und Laptop ab und folgte ihm. Auf dem Weg zur Küche sah sie, dass Ingo den Tisch bereits gedeckt hatte. In einer hohen, schmalen Vase stand eine einzelne blasse Rose mit Blütenblättern wie aus altem Porzellan. Im Kontrast dazu leuchteten die Papierservietten geradezu unverschämt rot.
» Du steckst voller Widersprüche«, sagte Romy und musste sich ein Grinsen verkneifen, als sie Ingo am Herd rotieren sah. In einer Pfanne und drei Töpfen brodelte und dampfte es, dass die hochmoderne Dunstabzugshaube kaum dagegen ankam.
» Kann ich dir helfen?«, fragte Romy.
» Wär prima, wenn du die Kartoffeln abschütten würdest.«
Bald darauf saßen sie am Tisch und ließen sich das Essen schmecken, eine scharfe Karotten-Ingwer-Suppe, danach Lachs mit Sesamkartoffeln und Salat und zum Abschluss selbst gemachtes Himbeereis.
» Wie hast du so fantastisch kochen gelernt?«, fragte Romy.
» Hab ich gar nicht«, gestand Ingo. » Ist bei mir reine Glückssache. Mal gelingt es, mal geht’s schief.«
» Ich glaube dir kein Wort«, sagte Romy.
» Irgendwie…« Ingo legte den Kopf schief und betrachtete sie nachdenklich. » Irgendwie bist du gar nicht richtig hier. Was ist los?«
Verblüfft starrte Romy ihn an. Noch eine neue Facette an ihm?
Ingo, der Gedankenleser?
» Ich habe Angst«, sagte sie.
» Um Björn.« Er nickte. » Das
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