Spiegelschatten (German Edition)
einigen Monaten geklaut worden war. Übergangsweise, hatten sie damals vereinbart, allerdings ging das Fahrrad mittlerweile ganz allmählich und unauffällig in Romys Besitz über.
Wenn nicht gerade Schnee lag, zog sie es vor, mit dem Rad zu fahren. In der Kölner Innenstadt war das Parken eine Katastrophe. Die Parkhäuser waren sündhaft teuer, und um irgendwo einen kostenfreien Parkplatz zu ergattern, brauchte man Zeit. Und Nerven aus Stahl.
Die meisten Bäume waren noch kahl, die Haselnusssträucher jedoch waren schon übersät mit langen gelben Blüten, die wie Raupen an den Zweigen hingen. Schneeglöckchen strahlten in der Sonne. Die Köpfe der Krokusse waren in der Kälte noch geschlossen. Sie würden sich, wenn überhaupt, erst in ein paar Stunden öffnen.
Romy hatte sich den Schal über die Nase gezogen, obwohl sie es hasste, wenn die Wolle von ihrem Atem feucht wurde und nach Schaf zu riechen begann. Ihr kamen Zweifel. Vielleicht hätte sie besser die U-Bahn nehmen sollen, um in einem halbwegs präsentablen Zustand bei dem Vortrag anzukommen.
Er fand im Kinosaal des Museum Ludwig statt, und weil Romy früh genug da war, hatte sie noch Zeit, im Restaurant einen Cappuccino zu trinken. Während sie den Blick über die Menschen an den übrigen Tischen schweifen ließ und sich bei der behaglichen Geräuschkulisse allmählich entspannte, versuchte sie ein weiteres Mal vergeblich, ihren Bruder zu erreichen.
Björn hatte sein Handy nicht ausgeschaltet, nahm das Gespräch jedoch auch nicht an. Romys Gefühle schwankten zwischen Enttäuschung, Ärger und Sorge. Es war nicht Björns Art, ihre Anrufe zu ignorieren. Es passte auch nicht zu ihm, sich tagelang nicht zu melden. Aber sie konnte nicht weiter darüber nachgrübeln. Die Ersten erhoben sich bereits, um sich in den Kinosaal zu begeben.
Auch Romy zahlte und stand auf. In ihrem Nacken spürte sie etwas Fremdes. Als würde jemand sie beobachten. Oder als würde eine drohende Gefahr ihren Schatten auf sie werfen. Sie schlang sich den Schal um den Hals und machte sich auf den Weg.
*
Fühle mich stark. Göttlich. Unbesiegbar. Blicke in den Spiegel.Sehe mir selbst in die Augen.
Erkenne mich.
Das kann morgen schon wieder anders sein. Und weil ich das weiß, genieße ich die Momente, in denen ich ganz bin. Unversehrt.
Ich will sie nicht, die Zweifel. Die Ängste. Aber sie fragen nicht, ob ich für sie bereit bin. Überfallen mich hinterrücks, wenn ich am wenigsten damit rechne. Ich sitze in einem Café, die Tür geht auf, und jemand kommt herein. Beispielsweise. Schwarz hebt sich seine Silhouette von dem Gegenlicht ab.
Er betritt den Raum und ich erschrecke. Bin unfähig, Luft zu holen. Sitze auf meinem Stuhl wie gelähmt. Kann nicht mal einen Finger krümmen. In meinem Kopf ist es ganz still, während die Geräusche in meiner Umgebung sich nicht verändern. Ich habe bloß nichts mehr mit ihnen zu tun.
Die andern und ich. Für ein paar Sekunden sind das getrennte Welten.
In meinem erstarrten Körper gefangen, warte ich, bis ich mich wieder regen kann.
Die Gestalt geht an meinem Tisch vorbei. Die Stimmen der übrigen Gäste gelangen wieder in mein Bewusstsein. Die beiden Welten schieben sich wieder übereinander. Ich bin wieder ganz.
Wie jetzt. Vorm Spiegel, in dem ich mein Gesicht bewundere und den entschlossenen Blick meiner Augen.
Warum kann es nicht immer so sein?
*
Er konnte seine Brille nicht finden. War blind wie ein Maulwurf und fand seine Brille nicht!
Dabei legte er sie nur an ganz bestimmten Stellen ab. Auf der Kommode im Flur, auf dem kleinen Badezimmerregal oder auf dem Nachttisch neben seinem Bett.
Nirgendwo sonst. Niemals.
Doch an all diesen Stellen hatte er bereits nachgesehen.
Die Brille war nicht da.
Er war so kurzsichtig, dass er nicht viel mehr als Licht und Schatten und den unscharfen Umriss von Gegenständen und Personen erkennen konnte, selbst wenn sie sich nur einen Meter von ihm entfernt befanden. Die kleine Zweizimmerwohnung, die er sich leistete, seit er die Assistentenstelle bei Professor Meinhardt an der Uni Bonn bekommen hatte, bestand für ihn lediglich aus einem sanften Gemisch warmer Farbtöne.
Wie auf einem abstrakten Gemälde.
Die Sonne leuchtete die Zimmer aus, brachte einen Goldton in das Bild hinein. Und Wärme. Fast war es ihm schon zu viel. Er fing an zu schwitzen.
Dankbar registrierte er den kühlen Luftzug, der ihn streifte. Der war schon wieder verschwunden, als er sich fragte, was ihn verursacht haben
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