Spiegelschatten (German Edition)
entfernt sie vom gesunden Baum und vernichtet sie.
Und warum tut man das?
Er versuchte, ihr keine Beachtung zu schenken, sich fest auf sein Gefühl zu konzentrieren, und sein Gefühl sagte ihm, dass es die Stimme war, die vernichtet werden musste. Doch wie sollte das gehen, wo sie doch so eng mit ihm verbunden war?
» Wer bist du?«, flüsterte er und wollte die Antwort doch gar nicht hören, denn er fürchtete sie mehr, als irgendetwas sonst.
WARUM TUT MAN DAS ?
» Um den Baum zu retten«, wisperte er mit Kinderstimme, heiser vom Weinen.
So ist es gut.
Zum ersten Mal bemerkte er, wie alt die Stimme klang. Alt wie die Welt. Und genauso grausam. Er verabscheute es, von ihr gelobt zu werden, denn indem sie ihn lobte, machte sie ihn zu ihrem Eigentum, mit dem sie schalten und walten durfte, wie es ihr beliebte.
Also tu es endlich. Entferne die faule Frucht und vernichte sie.
Er wusste, er würde ihr nicht mehr lange widerstehen können.
*
» Wo erwisch ich dich gerade?«, fragte Rick, der Bert auf dem Handy angerufen hatte.
» Im Büro. Aber ich wollte sowieso bald Schluss machen.«
» Kann ich dich zu einem Bier überreden?«, fragte Rick. » Ich komme eben vom Laufen und bin fix und alle. Mir klebt die Zunge am Gaumen.«
» Sag mir einfach, wo.«
Kurz darauf saßen sie wieder bei Schmalzbrot und Bier in dem Gewölbekeller vom letzten Mal, doch Bert merkte, dass er nicht abschalten konnte. » Von dem Kampf mit Josch Bellmann muss der Täter Verletzungen davongetragen haben«, murmelte er. » Wieso haben wir dann bei niemandem welche entdeckt?«
» Entweder, sie befinden sich an einer Stelle, die nicht so ins Auge fällt«, antwortete Rick, » oder der Täter stammt doch nicht aus dem Kreis um Björn Berner.«
Wovon sie beide nicht ausgingen.
» Bei jeder Morgenbesprechung dasselbe«, klagte Rick. » Ständig klopfen wir unsere Theorien ab, ohne etwas Neues zu entdecken.«
» Mir kommt es eher so vor, als würden wir uns in einem Strudel befinden und unaufhaltsam in die Mitte gesogen werden.« Mit der Hand deutete Bert die Bewegung eines Strudels an. » Dorthin, wo die Lösung der Fälle wartet.«
» Dein Wort in Gottes Ohr.«
Bert griff in die Tasche seines Sakkos und zog das vorläufige graphologische Gutachten heraus. » Wir suchen eine männliche Person zwischen zwanzig und fünfunddreißig Jahren mit ausgeprägten narzisstischen Neigungen und der Tendenz zu Dominanz und Größenwahn.«
» In Ordnung.« Rick nickte zustimmend. » Gehen wir die Punkte noch einmal durch.«
» Sie ist im tiefsten Innern voller Unsicherheit«, lasBert weiter vor, » und verwendet unendliche Mühe darauf, dies zu verbergen.«
» Hast du bei einer der Personen, mit denen wir gesprochen haben, Wut gespürt?«, fragte Rick. » Oder hattest du den Eindruck, dass jemand sich nur mühsam beherrscht?«
Bert schüttelte den Kopf. » Hör weiter«, sagte er. » Diese Person steht unter einem ungeheuren psychischen Druck. Sie hat enorme Schwierigkeiten, sich zu kontrollieren, ist dabei jedoch von hoher Intelligenz. Sie verfügt über eine ausgeprägte Sensibilität und besitzt gleichzeitig eine starke emotionale Kälte.«
» Und sie leidet an einer Persönlichkeitsstörung«, ergänzte Rick. » Und das erklärt, warum wir nicht weiterkommen. Persönlichkeitsstörungen sind ein verdammt weites Feld, Bert, hab mich mal eine Weile damit befasst. Darunter kann alles Mögliche fallen. Es gibt paranoide, schizoide, dissoziale, Borderline und narzisstische Persönlichkeitsstörungen. Um nur ein paar zu nennen. Und wir haben keinerlei Anhaltspunkte, um welche Störung es sich bei dem Täter handelt. Es existieren sogar Kombinationen mehrerer Krankheitsbilder.«
Bert fühlte sich, als robbte er auf den Knien durch einen dunklen, engen Tunnel. Irgendwo schimmerte ein Hauch von Licht, doch es war unerreichbar fern.
» Wir nehmen uns sämtliche schwarzhaarigen Männer aus dem Kreis um Björn Berner noch einmal vor«, sagte er und schob Rick die Liste mit den Namen hin, die er sich ausgedruckt hatte. » Das sind sechs aus dem Freundes- und elf aus dem Bekanntenkreis.«
Rick überflog die Namen.
» Maxim Winter.« Er hob den Kopf. » Aber ihm fehlen die notwendigen Informationen, über die der Täter verfügen muss. Er lebt in Berlin und kennt sich hier in der Gegend nicht aus. Erst recht nicht in den Gewohnheiten der Opfer. Außerdem– welches Motiv sollte er haben? Er ist selbst schwul oder bisexuell und er liebt Björn Berner.
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