Spiegelschatten (German Edition)
hasste es, wenn er sich unaufgefordert zu ihr setzte. Doch in diesem Augenblick war sie froh, jemanden zum Reden zu haben.
Ingo war mit Anfang dreißig schon ein alter Hase im Zeitungsgeschäft. Er hatte die Angewohnheit, sich als Alleskönner aufzuspielen und den Rest der Welt wie Deppen zu behandeln. Außerdem neigte er dazu, seinen Charme und seine Wirkung auf Frauen massiv zu überschätzen. Aber er besaß ein untrügliches Gespür für Sensationen, ein gut funktionierendes Netzwerk an Informanten, und wenn jemand Dreck am Stecken hatte, kratzte er als Erster daran.
Romy hatte ihn anfangs nicht sonderlich gemocht, doch inzwischen hatte sie auch eine andere Seite an ihm kennengelernt, die er allerdings für gewöhnlich gut versteckte: Ingo konnte loyal sein, wenn er wollte. Ihr gegenüber hatte er es in einer Situation bewiesen, die sie das Leben hätte kosten können. Sie hatte also einiges an ihm gutzumachen.
» Neuigkeiten?«, fragte er, während er die Speisekarte studierte.
» Bei mir nicht«, antwortete Romy. » Und bei dir, Schatz ?«
Er schüttelte den Kopf, klappte die Karte zu und winkte der Kellnerin. Er tat das auf eine Weise, die das Mädchen dazu veranlasste, ihn noch ein wenig schmoren zu lassen.
» Wo ist Cal?«, fragte er. » Hat er heute keinen Dienst?«
» Doch. Ich hab ein ganz mulmiges Gefühl. Er geht nicht an sein Handy.«
» Tut er doch nie.«
Ingo und Cal würden in diesem Leben keine Freunde mehr werden. Sie schienen auf verschiedenen Planeten zu leben. Nur im absoluten Notfall kamen sie miteinander aus und das lediglich, solange der Notfall dauerte.
Ingo bestellte sich einen Salat und ein Bier und verzichtete ausnahmsweise einmal darauf, die Kellnerin mit einem seiner Sprüche anzumachen. Stattdessen beugte er sich zu Romy, so nah, dass sie sein Rasierwasser riechen konnte.
» ICH bin hier«, sagte er und sah ihr so tief in die Augen, dass Romy anfing zu lachen.
Verärgert rückte er sich auf seinem Stuhl zurecht. Obwohl sein Ego von allein schon mächtiger war als der Kilimandscharo, brauchte er dauernd Bewunderung.
Romy überlegte gerade, wie sie ihn besänftigen könnte, als die Tür aufging und Cal das Alibi betrat.
Er durchquerte den Raum mit federnden Schritten. Die gute Laune umgab ihn wie eine weithin sichtbare Aura. Strahlend. Für die Gäste an den Tischen hatte er keinen Blick.
Auch nicht für Romy, die zwei Empfindungen gleichzeitig spürte: Erleichterung und Wut.
» Hey«, sagte Ingo leise, als wollte er sie besänftigen.
Sah man ihr so deutlich an, was sie fühlte?
Sie hatte das Bedürfnis, sich Cal an den Hals zu werfen, sein Gesicht mit Küssen zu bedecken und ihn nie mehr loszulassen. Oder ihm eine schallende Ohrfeige zu geben, die er nicht vergessen würde.
Cal verschwand in der Küche, um sich die lange dunkelrote Schürze umzubinden, die hier übliche Arbeitskleidung. Als er wieder herauskam, hatte er sich in einen Kellner verwandelt.
Er entdeckte Romy sofort. Doch statt zu ihr zu kommen oder ihr wenigstens ein kleines Lächeln zu schicken, zögerte er.
Es war dieses Zögern, das Romy alles verriet.
Sie klappte ihren Laptop zu und nestelte zehn Euro aus der Tasche. Ihre Hände fühlten sich taub an.
» Bezahlst du für mich?«, bat sie Ingo hastig und drückte ihm den Schein in die Hand. » Ich muss weg.«
Sie schnappte sich ihre Jacke und bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Cal sich in Bewegung setzte. Die Jacke überm Arm, stürmte sie hinaus in die Kälte.
Cal rief ihren Namen. Er musste ihr nach draußen gefolgt sein. Romy drehte sich nicht nach ihm um. Sie beschleunigte ihre Schritte.
Der kurze Weg zur Tiefgarage, wo sie ihren Fiesta geparkt hatte, erschien ihr endlos.
Lusina, dachte sie.
Der Name blieb eine Weile in ihrem Kopf wie ein Schmerz, bis er von anderen Gedanken überdeckt wurde, die aber nicht weniger wehtaten. Sie alle kreisten um Cal und darum, dass sich in ein paar Sekunden alles verändert hatte.
Ihr ganzes Leben.
8
Schmuddelbuch, Donnerstag, 3. März, nach Mitternacht
Friere immer noch. Kann nicht weinen. Nicht schlafen. Keinen klaren Gedanken fassen.
Cal hat alle paar Minuten versucht, mich anzurufen. Ich bin nicht ans Telefon gegangen, hab meine Nachrichten nicht gelesen. Ich kann ihn im Augenblick nicht sehen, seine Nähe nicht ertragen, nicht mal seine Stimme hören.
Irgendwann hat Helen an meine Tür geklopft und ich hab sie reingelassen. Sie hat mich angeguckt, mich in die Arme genommen und festgehalten.
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