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Spieler Eins - Roman in 5 Stunden

Spieler Eins - Roman in 5 Stunden

Titel: Spieler Eins - Roman in 5 Stunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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wurden.
    Jetzt hört euch nur an, wie ich mit Metaphern um mich werfe. Und wie ich versuche, Zeit zu definieren, obwohl ich nicht mehr in ihr lebe. Perfekt, Präsens und Futur erscheinen jetzt wie Partygags, und es war recht schwierig, mit den Zeitformen nicht durcheinanderzukommen. Aber ich erinnere mich noch ein wenig an das Leben vor dem einundzwanzigsten Jahrhundert, und besonders an den nach 9/11 noch verstärkten Gefühlseindruck, die Zeit habe aufgehört, sich wie Zeit anzufühlen. Die Gesellschaft hat als Ganzes das Gespür verloren, dass eine Ära sich wie eine Ära anfühlt – sie hat vergessen, wie es war, als Zeitempfinden, Emotionen und Kultur eines konkreten Momentes in der Zeit noch eine ganz eigene Beschaffenheit besaßen, etwa so, wie sich die Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts angefühlt haben müssen. Und das Leben fühlte sich nicht mehr wie ein Leben an – zumindest redeten die Menschen immer öfter davon, dass sie kein Leben mehr hätten. Wie war das gemeint? Die Informationsüberflutung bewirkte bei den Menschen eine krisenhafte Wahrnehmung des eigenen Lebens. Sie beschleunigte den Prozess, mit dem wir die Fragen aufwerfen, miteinander in Beziehung setzen und schärfen, die entscheidend sind für unser wahres Ich, für unsere Rollen – für unsere Geschichten. Die Crux scheint zu sein, dass sich unsere Leben nicht mehr wie Geschichten lesen lassen. Und wenn wir kein Leben mehr führen können, das wie eine Geschichte ist, wasist dann aus unserem Leben geworden? Doch das eigene Leben als Geschichte zu betrachten wirkt wie ein weiteres nostalgisches Relikt aus einer Epoche, in der die Energie billig war und der Planet die Vorstellung vom super-besonderen, ultra-wichtigen Individuum mit Blogs und Googletreffern und einem Lebenslauf der Spitzenklasse tatsächlich noch materiell verkraften konnte. In der Neuen Normalität müssen wir uns von der Vorstellung unserer Wichtigkeit als Individuen frei machen. Es entsteht gerade etwas Neues, das Menschen, die noch vom Solipsismus des zwanzigsten Jahrhunderts befangen sind, weder Interesse noch Mitgefühl entgegenbringt. Nichtlineare Geschichten? Multiple Enden? Keine Ladezeiten mehr? Das nennt man das Leben auf Erden. Das Leben muss keine Geschichte sein, aber ein Abenteuer schon.
    In tausend Jahren werden durch selbstbestimmte Mutation entstandene Post-Menschen mit Staunen und Unglauben auf uns zurückblicken. Sie werden sagen, dass damals der Zeitpunkt war, an dem die Menschheit und der Planet sich wahrhaft vermählten, sich vereinigten, der Moment, von dem an beide nicht mehr zu trennen waren. Ich hoffe, sie werden feststellen, dass wir es mit einem gewissen Humor getragen haben. Ja, aus meinem neuen Blickwinkel sehe ich, wie lächerlich es von mir war, mir ein Dreitausendvierhundert-Dollar-Kleid zuzulegen, um in einer schmierigen Flughafen-Cocktaillounge einen Partner zu finden. Und ja, es war drollig, dass Karen als Cougar auf Max’ Seite in irgendeinem sozialen Netzwerk landete.
    Aber Augenblick mal, der Plan hat sich geändert: Gerade stelle ich fest, dass mir erlaubt ist, auf die Erde zurückzukehren – und zwar mit meinem DNS -Klumpen, der im nächsten April ein 5,3 Pfund schweres Mädchen geworden sein wird. Ich vermute, man hat mich deshalb hier auf diese Lichtung gebracht, damit ich mir über alles Klarheit verschaffe.
    Das heißt, ich werde eine unvollendete Zukunft haben.
    Das heißt, ich werde eine Geschichte haben.
    Und es wird bald viel passieren …
    Es wird anfangen zu regnen, und die Chemikalien draußen vor der Lounge werden zischend und schäumend davongespült werden. Benzin wird rationiert und von der Regierung zugeteilt werden; es wird nie wieder unter dreihundertfünfzig Dollar pro Barrel kosten.
    Die Polizei wird kommen, und alle werden von hier verschwinden. Karen wird mit Luke in einem Wohnheim leben und drei Wochen darauf warten, dass wieder Flugzeuge starten. Ein paar Monate später werden sie heiraten; Lukes ehemalige Gemeinde wird ihn nicht wegen Unterschlagung vor Gericht bringen, sondern für ihn beten – ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie ein bisschen dumm sind. Aber Karen, Luke und Tochter Casey werden ihr Happy End bekommen.
    Rick? Rick wird mit Max und mir ins Krankenhaus fahren. Max wird erblinden, und ich werde die Fähigkeit verlieren, Metaphern und Humor zu verstehen – ich werde beides sehr vermissen. Ich bin nicht sicher, ob ich immer noch an Gott glauben werde. Das bleibt

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