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Spieler Eins - Roman in 5 Stunden

Spieler Eins - Roman in 5 Stunden

Titel: Spieler Eins - Roman in 5 Stunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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menschlichen Körper zehnmal so viele körperfremde Gebilde kommen – Bakterien, Viren und Pilze. Die würden auch mit der Kleidung zurückbleiben. Igitt. Dein Körper ist überhaupt kein Körper – er ist ein ganzes Ökosystem.
    Karen entscheidet sich, es noch weiter zu treiben … wie steht es mit Wasser? Wasser ist bloß Wasser und genaugenommen kein Teil von dem, was Karen zu Karen macht, deswegen würden all die zurückgelassenen Kleidungsstücke und der übrige Schmodder auf den Sitzen der 747 klatschnass sein. Aber dann … was ist mit den ganzen Zellen im Körper? Wie sollte man die klassifizieren, als Karen oder Nicht-Karen? Eizellen würden zurückbleiben, denn die sind ja nur zur Hälfte Karen, nicht die ganze Karen, nur die Hälfte ihrer DNS . Augenblick mal – da ist dieses Wort wieder, » DNS « … DNS . Wenn Karen sich eine Zelle genauer ansehen würde, sagen wir eine Hautzelle, würde augenfällig, dass nur ihre DNS wirklich sie ist. Das Übrige wären Proteine, Fette, Enzyme, Hämoglobin und …
    … und dann sieht Karen ihre eigenen matschigen Überreste auf Platz 26K vor sich. Aus ihnen würde sich eine geisterhafte, hauchdünne, nylonstrumpfartige Kreatur erheben, die ausschließlich aus Karens DNS besteht – das Einzige an ihr, das sie mit Fug und Recht als »sie selbst« bezeichnen kann. Nylonstrumpf! Wahrscheinlich nicht mal das, denn alle aus ihrem Körper extrahierte DNS wäre ja unverbunden – ihre ganze DNS wäre ein feines Pulver, etwa von der Masse einer Orange. Karen überkommt Demut, als sie daran denkt, wie wenig sie sich von anderen Menschen unterscheidet, ein Häufchen Staub. Wie kitschig und wischi-waschi und fernöstlich angehaucht. Und dennoch … das ist es, was sie – beziehungsweise uns alle – ausmacht. Staub. Die ganzen fundamentalistischen Christen, die ihrer Entrückung ins Himmelreich harren, sollte mal jemand vorwarnen, damit sie denen, die zurückbleiben, auch genügend Wischeimer und Mopps bereitstellen.
    Karen schreckt aus ihren Tagträumen auf. Ihr Sitznachbar sieht auf dem Discovery Channel eine Dokumentation über größeres Viehzeug, das kleineres Viehzeug jagt und auffrisst. Der Airbus 320 macht sein behäbiges Schhhh-Geräusch. Karen versucht sich Warren vorzustellen. Karen hat Warren übers Internet kennengelernt, und Warren erwartet Karen in der Cocktaillounge des Toronto Airport Camelot Hotel. Eine Cocktaillounge! Wie verdorben und wie wundervoll – und noch besser: wie unverbindlich. Wenn es zwischen ihr und Warren klick macht, wäre es wohl geboten, sich das sprichwörtliche Zimmer zu nehmen. Wenn es nicht klickt, heißt es, direkt zurück zum Flughafen und mit der nächsten Maschine nach Haus. Die Natur , denkt Karen, war sehr grausam, aber effizient, als sie das Klickmachen erfunden hat . Aber was, wenn es nicht klick macht: wenn sie Warren mag, aber nur mag – mögen ohne Klicken? Na ja, so funktioniert es ja nie, oder? Ab auf den seelenzermahlenden Fleischmarkt.
    Karen wendet sich zum Fenster, und ein Schmutzfleck darauf bringt sie auf einen Gedanken: Wäre es nicht toll, wenn die Sterne tagsüber schwarz würden – der Himmel gesprenkelt mit Pünktchen wie Pfefferkörnern? Ein Halbmond ist im Süden zu sehen. Stell dir vor, du blickst hoch zum Mond und siehst ihn in Flammen stehen! Zum ersten Mal in vielen Monden hat Karen das Gefühl, dass ihr Leben eine echte Geschichte ist, nicht nur eine Aneinanderreihung von Ereignissen, in ein Korsett von Tagen gezwängt – dem Chaos auferlegte, falsche Linearität, weil wir Menschen gerne nachvollziehbare Ordnung in unsere prekäre Existenz auf Erden bringen möchten. Karen denkt: Wir Menschen sind damit geschlagen, Gefangene der Zeit zu sein, dazu verflucht, unser Leben als Abfolge von Ereignissen zu interpretieren, als Story, und wenn wir nicht auf die Story kommen, die zu uns passt, fühlen wir uns irgendwie verloren.
    Aber damit hat Karen nichts am Hut, nicht heute. Der lüsterne Teenager auf der anderen Gangseite hält ganz verstohlen sein iPhone hoch und macht ebenso verstohlen ein Foto von Karen, darum zeigt Karen der Kamera den Mittelfinger. Sie fühlt sich wieder jung. Und dann hat sie ein Déjà-vu-Erlebnis; seltsam, denn ihre derzeitige Mission ist ganz anders als alle, die sie bisher unternommen hat. Das Déjà-vu-Gefühl vergeht wieder, und Karen fragt sich, wie das Leben wohl wäre, wenn es ausschließlich aus Déjà-vus bestünde – wenn sich das Leben die ganze Zeit wie eine

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