Spieltage
von den Alpen nach Nordrhein-Westfalen, aber Schneeregen oder Schneeschauer werden allenfalls noch vereinzelt erwartet, bei Temperaturen bis fünf Grad. Die meisten Bundesligaspiele am Dienstag und Mittwoch sollten stattfinden können.
Mach dir mal keine Sorgen, sagt Liese, das Glatteis im Strafraum wird schon halten, und die Platzkommission hat der Ottokar im Griff.
Er mache sich keine Sorgen, erwidert Heinz Höher.
Ottokar Wüst, der Präsident des VfL, hatte mit am Tisch gesessen, als Heinz Höher am Sonntagmorgen im Gasthaus Mense die Idee ausgesprach: Und wenn wir das Spiel ausfallen lassen?
Ohne das Einverständnis des Präsidenten hätte er sich nicht zu handeln getraut. Als Junge war Heinz Höher von einer ausgeprägten Autoritätsgläubigkeit durchdrungen gewesen. Auf Konrad Adenauer ließ er nichts kommen; ohne genauer zu wissen, wie Kanzler Adenauer das Land regierte. Als Trainer war der Vereinspräsident sein wichtigster Vertrauter, gleichzeitig sein Gehilfe und sein Beschützer. Ottokar Wüst, das Haar silber, nicht grau, in der Öffentlichkeit selten ohne Anzug und Krawatte zu sehen, Besitzer von Herrenbekleidung Wüst in der Brückstraße, ließ bei Präsidiumssitzungen des VfL Bochum bei wichtigen Fragen immer alle mitreden, ließ immer alle abstimmen; und am Ende wurde gemacht, was er entschied.
Welch tollkühne Idee verberge sich hinter seinen mysteriösen Worten, das Spiel ausfallen zu lassen, fragte Wüst Höher sonntagmorgens im Haus Mense an der Castroper Straße, nur drei Minuten zu Fuß vom Stadion. Höher und Wüst besprachen mit den Lizenzspielerobmännern Liese und Höffken die Lage. Die Worte schienen stets ein steifes Rückgrat zu haben, wenn Wüst redete, und faszinierenderweise fand er für seine salbungsvolle Sprache in diesem Milieu der Arbeiter und Fußballer große Bewunderung. Die Tische bei Mense waren aus grobem Holz. Tischdecken wurden nicht aufgelegt. Es gab schon Bier sonntagmorgens.
Sportlich wäre es sinnvoll, das Spiel durchzuziehen, der schwer bespielbare Schneeboden konnte Bochums kämpferischem Stil nur entgegenkommen, und der VfL verzehrte sich nach einem Sieg, als Viertletzter, mit nur einem Punkt Vorsprung auf die Abstiegsränge. Aber selbst der Trainer sah sofort das große Ding, das sie mit einer Spielabsage drehen könnten: In drei Wochen, am 7. März 1976, würde das Stadion an der Castroper Straße wegen Umbaus für vier Monate geschlossen werden, sie mussten dann für die verbleibenden Heimspiele bis zum Saisonende in ein anderes Stadion ausweichen. Wenn das Spiel gegen Schalke nun ausfiel, konnten sie es im Frühling in Dortmund austragen. Dort fasste das Westfalenstadion 54000 Zuschauer, während an einem sibirischen Februarabend in Bochum allenfalls 20000 kämen.
In Dortmund konnten sie 400000 Mark verdienen. Vielleicht eine halbe Million.
Die Rekordeinnahme des VfL im Stadion an der Castroper Straße betrug rund 150000 Mark netto, bei einem Spiel gegen Bayern München. Wie alle Bundesligaklubs lebte der VfL nahezu ausschließlich von den Zuschauereinnahmen, wo sollte denn das Geld sonst auch herkommen?
Es sollte ihn als Trainer nicht interessieren, er sollte sich auf seine Aufgabe konzentrieren, aber natürlich hatte Heinz Höher die Zahlen im Kopf. Wenn er samstags aufwachte und es regnete, dachte er sofort, verdammt, 3000 Zuschauer weniger, 18000 Mark weniger; das Geld spürte ein Klub wie der VfL, das spürte er als Trainer die ganze Zeit, das nicht vorhandene Geld. Auf 3,5 Millionen Mark belief sich das gesamte Jahresbudget, wobei der Vorstand schon außerordentliche Maßnahmen ergreifen musste, damit das Geld reichte: Hotelrechnungen zum Beispiel wurden fast nie pünktlich und manchmal gar nicht bezahlt.
Eine halbe Million, dachte Höher. Eine halbe Million in einem einzigen Spiel. Wahnsinn.
Gegen halb zwölf am Montagmittag, dem 16. Februar 1976, zieht Heinz Höher zur marineblauen Hose mit Schlag den gleichfarbigen Mantel mit Militärklappen an, den seine Frau für ihn ausgewählt hat. Früher ging er nicht ungern einkaufen. Seit einiger Zeit allerdings wehrt er die Versuche seiner Frau, ihn zum Kleiderkauf zu bewegen, mit einem panischen »Ich habe doch alles!« ab. Sie dachte, es könne am Trainerstress liegen. Ihre Bekannten sagten ihr, es liege wohl in der Natur der Männer, wenn sie älter werden.
Er ist 38, jugendlich für einen Trainer. Ohne eine Anstrengung dafür zu unternehmen, sieht er auf verwegene Art gut aus. Es muss der
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