Der blinde Passagier
Einer Klassenarbeit werden
drei Zähne gezogen
Studienrat Semmelroth stand am Fenster und schaute den Schneeflocken zu, die über dem Schulhof durcheinandertanzten, wie Schneeflocken das eben so an sich haben. In seinem Rücken saß die Untertertia und biß sich an einer Klassenarbeit mit dem Thema „Ein Sonntag in London’„ die Zähne aus.
Dabei hatte das Ganze völlig harmlos angefangen. Studienrat Semmelroth war auf die Minute pünktlich ins Klassenzimmer marschiert und hatte, höflich wie ein Oberkellner, seine Texte verteilt, die auf Saugpostpapier vervielfältigt waren. „Darf ich um möglichst fehlerfreie Übersetzung ins Englische bitten, meine Herren. Ich bin sicher, das freundliche Thema eines Sonntags in der englischen Metropole macht euch keine Schwierigkeiten. Wer fertig ist, legt seine Arbeit wortlos hier auf das Katheder und kann für den Rest des Tages an die frische Luft.“ Bei seinen letzten Worten hatte Studienrat Semmelroth bereits in einem englischen Kriminalroman geblättert, in dem er dann über eine halbe Stunde lang geschmökert hatte, ohne ein einziges Mal aufzuschauen und so, als sei er völlig allein und bei sich zu Hause.
Erst vor etwa fünf Minuten, als Matthias Kiekebusch in der dritten Bank die Luft so tief eingezogen und wieder ausgeatmet hatte, als fahre ihm ein Güterzug mit hundertzehn Waggons über die Brust, war Studienrat Semmelroth aufgestanden, hatte vergnügt sein Buch wieder zugeklappt und war zur Fensterseite des Klassenzimmers hinüberspaziert.
Es herrschte eine Stille wie im Hochgebirge, wenn kein Wind geht.
Nur gelegentlich war das leise Klicken der Dampfheizung zu hören. Aber das war auch alles. Eine Fliege, die auf der Europakarte ganz dicht bei Madrid Platz genommen hatte, wagte es nicht, sich zu bewegen. So feierlich war diese Stille und so ansteckend.
Das hatte natürlich seinen Grund.
Inzwischen hatte es sich nämlich herausgestellt, daß Studienrat Semmelroths „Sonntag in London“ durchaus nicht so harmlos und freundlich war, wie es zunächst schien. Im
Gegenteil. Wie mit einem Magneten waren aus dem bisherigen Englisch-Pensum die unmöglichsten Vokabeln, Deklinationen und unregelmäßigen Verben herausgefischt und jetzt im ganzen Text versteckt wie Pfefferkörner in einer Salami.
Es war so, als habe Studienrat Semmelroth seine Untertertia zu einem harmlosen Morgenspaziergang in den Hydepark eingeladen, in dem er allerdings am Abend vorher eine Unmenge von Fallen aufgestellt hatte. Und leider waren diese Fallen so aufgestellt, daß man im ersten Augenblick in sie hineinschlitterte wie in eine Schüssel mit Vanillepudding.
Als es zur großen Pause klingelte, sagte Studienrat Semmelroth, anscheinend zur Fensterscheibe: „Wir bleiben hier natürlich zusammen. Aber wer eine Stärkung braucht, darf jetzt seine mitgebrachten Wurstbrote auspacken. Ich muß allerdings darauf bestehen, daß nicht gesprochen wird. Guten Appetit, meine Herrschaften.“
Aber die englische Klassenarbeit hatte sich der ganzen Untertertia recht auf den Magen geschlagen. Lediglich Tobias Schlotterbeck, der seiner Länge wegen in der letzten Bank saß, angelte sich einen knallroten Apfel aus seiner Ledermappe. Das tat er aber nicht, weil er Hunger hatte. Notfalls wäre Tobias Schlotterbeck acht Tage lang mit zwei Kartoffeln ausgekommen. Trotzdem biß er jetzt in seinen Apfel, daß es nur so krachte. Das sollte nämlich ein Protest sein — ein Protest im Namen der Untertertia. Tobias Schlotterbeck war der Vertrauensschüler der Klasse, weshalb er, übrigens wie alle Vertrauensschüler in der Schule, nur „Sheriff“ gerufen wurde.
Studienrat Semmelroth blickte von den Schneeflocken weg, drehte sich um und fragte lächelnd: „Wolltest du etwas sagen?“
„Nein, danke. Ich habe nur vor mich hin gedacht“, erwiderte der Sheriff geheimnisvoll.
„Und das willst du natürlich für dich behalten?“ vermutete Studienrat Senmmelroth. „Ich meine das, was du da so vor dich hin gedacht hast.“
Der Sheriff nickte nur stumm. Er hatte gerade wieder in seinen Apfel gebissen und konnte nicht sprechen.
„Aber es würde dir vielleicht Spaß machen, wenn du in aller Öffentlichkeit sagen dürftest, was du gedacht hast?“
Der Sheriff nickte zum zweiten Mal. Er kaute immer noch.
„Es soll schon vorgekommen sein, daß Leute an Gedanken, die sie nicht loswurden, erstickt sind“, gab Studienrat Semmelroth zu bedenken. Er legte seine Hände auf den Rücken und setzte sich in
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