Spin
Armen und Beinen. Diese besaßen Ranken, die sich in das lockere Material des Wirtskörpers zwängten, nach kohlenstoffhaltigen Molekülen gruben.
Schließlich begannen mikroskopisch kleine, aber sorgsam kalkulierte Dampfexplosionen die Rotation des Wirtsobjekts abzubremsen (geduldig, über Jahrhunderte), bis die Oberfläche der Kolonie permanent der Sonne zugekehrt war. Jetzt nahm die Differenzierung ernsthafte Formen an: Die Kolonie stieß Kohlenstoff-Kohlenstoff- sowie Kohlenstoff-Silizium-Verbindungen aus, sie bildete monomolekulare Schnurrhaare aus, um diese Verbindungen zu verketten und sich auf der Komplexitätsleiter nach oben zu hieven. Aus diesen Verbindungen heraus generierte sie lichtempfindliche Punkte – Augen – und die Fähigkeit, Hochfrequenzrauschen zu erzeugen und zu verarbeiten.
Im Laufe weiterer Jahrhunderte erweiterte und verfeinerte die Kolonie diese Fähigkeiten, bis sie mit einem regelmäßigen Zwitschern auf sich aufmerksam machte, ein Geräusch etwa, wie es ein neugeborener Sperling machte. Und dieses Geräusch hatte unser Satellit aufgefangen.
Die Medien berichteten einige Tage lang – mit Archivfotos von Wun Ngo Wen, seiner Beerdigung, des Raketenstarts – und vergaßen die Sache dann wieder. Schließlich war es lediglich die erste Phase dessen, wofür die Replikatoren konzipiert waren. Nichts Aufregendes. Eher langweilig. Es sei denn, man dachte länger als dreißig Sekunden darüber nach.
Dies war Technologie mit einem Eigenleben – ganz buchstäblich: Ein Geist aus der Flasche, für immer und ewig.
Das Flackern kam ein paar Monate später.
Das Flackern war das erste Anzeichen für eine Veränderung oder Störung in der Spinmembran – wenn man die Himmelserscheinung nicht mitzählt, die dem chinesischen Raketenangriff auf die Polarartefakte gefolgt war, damals in der Frühzeit des Spins. Beide Ereignisse waren von jedem Punkt des Erdballs aus sichtbar (gewesen). Davon abgesehen, hatten sie jedoch kaum etwas gemeinsam.
Nach dem Raketenangriff schien die Spinmembran gewissermaßen ins Stottern geraten zu sein und erholte sich erst, nachdem sie Stroboskopbilder des Himmels erzeugt hatte, vervielfältigte Monde, kreisende Sterne.
Das Flackern war anders.
Ich beobachtete es vom Balkon meiner Vorstadtwohnung aus. Ein warmer Septemberabend. Einige der Nachbarn hatten sich schon draußen aufgehalten, als es begann – jetzt kamen wir alle raus. Wie schnatternde Stare hockten wir auf unseren Brüstungen.
Der Himmel war hell. Nicht von Sternen, sondern von hauchdünnen goldenen Feuerfäden, die wie Blitze über den Horizont zuckten. Die Fäden bewegten und verschoben sich auf völlig unberechenbare Weise, erloschen, flammten neu auf. Es war faszinierend und furchterregend zugleich.
Und es war ein globales, kein lokal begrenztes Ereignis. Auf der Tageslichtseite des Planeten war es nur undeutlich sichtbar, vom Sonnenlicht verschluckt oder von Wolken verdeckt. In Nord- und Südamerika sowie in Westeuropa jedoch führte das Schauspiel am dunklen Himmel zu Panikausbrüchen. Immerhin erwarteten wir seit etlichen Jahren das Ende der Welt, und jetzt schien es so weit zu sein – zumindest sah es nach der Ouvertüre aus.
In dieser Nacht wurden allein in der Stadt, in der ich lebte, Hunderte von Selbstmorden oder Selbstmordversuchen, Dutzende von Morden oder Tötungen auf Verlangen verzeichnet. Offenbar gab es viele Menschen wie Molly Seagram, Menschen, die dem vorhergesagten Überkochen der Meere mit Hilfe von tödlichen Tabletten dieser oder jener Art entgehen wollten; die einen Vorrat angelegt hatten, der auch für Freunde und Familie reichte. Als der Himmel aufleuchtete, entschlossen sich viele von ihnen, die letzte Reise anzutreten. Etwas voreilig, wie sich herausstellte.
Das Schauspiel dauerte etwa acht Stunden. Am nächsten Morgen war ich im örtlichen Krankenhaus, um in der Notaufnahme auszuhelfen. Bis Mittag hatte ich sieben Fälle von Kohlenmonoxidvergiftung gesehen, Leute, die sich mit ihrem im Leerlauf laufenden Auto in der Garage eingeschlossen hatten. Bei den meisten konnte ich nur noch den Tod feststellen, und die Überlebenden waren kaum besser dran. Menschen, die ansonsten vollkommen gesund waren, denen man tagtäglich im Supermarkt begegnet sein mochte, würden den Rest ihres Lebens an Beatmungsgeräten zubringen, mit irreparablen Hirnschäden, Opfer eines fehlgeschlagenen Ausstiegsplans. Sehr unerfreulich. Doch die Schusswunden waren noch schlimmer. Ich konnte sie
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