Frühstückspension: Kriminalroman
1
Horumersiel Ende November
Ich fahre langsam die Deichstraße entlang. Rechts und links stattliche Pensionen. Viel zu groß für mich. Weiter hinten am Deich ein schmuckes Haus nach dem anderen. Blütenweiße Gardinen. Falte an Falte. Auf den Fensterbänken prächtige Grünpflanzen. Die Gärten sind für den Winter gerüstet. Vor den Einfahrten stehen Kübel mit Heide und Wacholder Spalier. Viele haben ein Schild ›Zimmer frei‹ im Fenster hängen. Welches soll ich nehmen? Ich hasse solche Entscheidungen. Reinhard hat sie mir ständig überlassen. Keine wirklich wichtigen, aber die Quartiersuche für den Urlaub zum Beispiel. Er habe keine Energie übrig. Dafür umso mehr, um mich zu beschuldigen, falls ich daneben gegriffen hatte.
Die Straße endet. Ich will schon den Wagen wenden und einem Zählreim die Wahl überlassen, als ich dieses Haus sehe. Im Vorgarten drehen sich noch vergessene Windräder vom Sommer. Margeriten und Geranien hat man der Gunst des Novembers überlassen. Der war ungewöhnlich mild. An den Rosenbüschen leuchten sogar noch ein paar dunkelrote Blüten. Ich halte an. Meine Suche ist beendet.
Dunkle Caprihose und ein verwirrend enges Tigeroberteil. Die Füße sind nackt. Lässig an die Haustür gelehnt, sieht sie mich abwartend an. Ich schätze sie um die 40 oder 50. Die perfekt geschnittene, rötlich getönte Bobfrisur gibt ihr etwas Zeitloses.
»An wie viele Übernachtungen haben Sie gedacht?«, fragt sie und verlagert ihr Gewicht auf eine Hüfte.
»Ich weiß noch nicht«, stammele ich und muss an Reinhard denken. Wie viele Übernachtungen? Wie viel Zeit werde ich noch mit ihm haben? Der Gedanke schmerzt. Reiß dich zusammen, Teresa! Gleich zur Begrüßung Tränen, und sie schließt mir die Tür vor der Nase. Aber genau in diesem Haus will ich wohnen.
»Oma! Telefon!«
Die helle Kinderstimme erinnert mich, dass die Frau auf eine Antwort wartet.
»Moment! Ich komme gleich!«, schreit die ungeniert laut in das Haus zurück. Sie misst mich mit einem ungeduldigen Blick.
»Erst einmal für eine Woche«, entscheide ich mich hastig. Sie nickt kaum merklich und reicht mir flüchtig ihre Hand.
»Ich bin Tomke Heinrich. Kommen Sie herein.«
Der Name entlockt mir ein ungewolltes Lächeln. Tomke Heinrich klingt so klischeehaft nach Nordseeküste, wie ihr Äußeres nicht dazu passt. Ich folge ihr auf einer schmalen Treppe nach oben. Im Schnelldurchgang zeigt sie mir mein Zimmer. Toilette und Dusche seien auf der Etage. Zurzeit sei ich der einzige Gast. Das ist mir recht.
»Frühstück zwischen 8 und 10 Uhr!«, ruft sie, schon wieder auf dem Weg nach unten.
»Trinken Sie Tee oder Kaffee?«
»Kaffee. Wenn möglich mit Kuhmilch.«
»In Ordnung. Und Sie müssen sich bei der Kurverwaltung melden.«
Das Zimmer ist klein und sparsam eingerichtet. Links neben der Tür ein Waschbecken mit Spiegel. An der Wand das Bett. Darüber zwei Bilder mit dem üblichen Meeresspektakel. Ein Fenster. Rechts ein schmaler Tisch mit Stuhl und ein geräumiger Kleiderschrank. Ich schließe die Tür hinter mir ab. Im Raum hängt dezent der Geruch von Zitronenreiniger. Ich reiße das Fenster weit auf und atme die würzige Meeresluft ein. Es muss gerade Flut sein. Ich kann das Meer dicht hinter dem Deich rauschen hören. Im gleichmäßigen Rhythmus. Wie Atemzüge. Ein und aus. Sein Bild schiebt sich vor meine Gedanken. Wie er an dem Gerät hängt. Die vielen Schläuche. Keine Körperöffnung ohne. Die Maschine drückt in regelmäßigen Abständen Sauerstoff in seine Lungen. Das Heben und Senken seiner Brust und der monotone Singsang der Pumpen haben mich an das Meer erinnert.
Der schmale Tisch neben dem Fenster würde zum Schreiben reichen. Ich habe mir vorgenommen, Tagebuch zu führen. Vielleicht für Reinhard. Hoffentlich. Reinhard sagt immer, dass ich das Wesentliche beim Erzählen vergäße.
Es ist noch früh. Gerade dunkel geworden. Ich spüre wieder die bleierne Müdigkeit. Schlafen, endlich schlafen. Das Kopfkissen ist viel zu wuchtig. Mein eigenes liegt im Auto. Immer Angst vor Nackenschmerzen. Aber ich bin zu träge, um noch einmal nach unten zu gehen. Fühle jetzt erst die Schwere in meinen Gliedern. Die Zimmerdecke ist mit Holz verkleidet. Mein Blick wandert spielerisch an den Astlöchern entlang. Unten wird eine Tür ins Schloss geknallt. Der Fußboden bebt nach. Eine energische Frau, diese Heinrich. Sie bräuchte sicher nicht so lange, um eine Entscheidung zu treffen. Ich knipse das Licht aus. Es ist
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