Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
Arm und führte sie in den Schlafbereich des Zimmers. Vor dem Bett auf dem Boden stand ein dunkler Leichenbehälter mit Tragegriffen. Der Deckel des Behälters war geschlossen.
»Sind Sie sich immer noch sicher, dass Sie ihn sehen wollen?«, fragte Revelli. Sarah nickte und bejahte mit ruhiger, leiser Stimme. Revelli sprach ein paar Worte mit zwei Leuten von der Spurensicherung. Die Männer hoben daraufhin den Deckel vom Sarg, legten ihn daneben ab und machten sich wieder an ihre Arbeit.
Sarah war erstaunt, wie wenig sie der Tote erschreckte. Sie spürte nur einen leichten Hauch von Unbehagen, ihn so nah vor sich zu sehen, sonst nichts. Sie versuchte zu erahnen, was für ein Mensch er gewesen sein mochte, aber vor ihr lag nur noch eine leere Hülle, mit der sie nichts verbinden konnte, weil sie ihn nie gekannt hatte. Und die Person oder das, was sie einmal ausgemacht haben mochte, war nicht mehr vorhanden, jedenfalls nicht mehr in diesem Raum. Sein Gesicht wirkte ruhig und gelöst. Sie konnte keine Spur eines Todeskampfs darin erkennen. Je länger sie ihn ansah, desto klarer wurde ihr die große Ähnlichkeit zwischen ihnen. Ohne jeden Zweifel, dieser Fremde war ihr Vater.
»Was ist mit ihm passiert?«, fragte sie einen jungen Typen von der Spurensicherung, der in ihrer Nähe arbeitete.
Überrascht, dass ihn eine fremde Person so etwas fragte, noch dazu in Gegenwart des Kommissars, sah er sie an. Dann warf er einen Blick auf Revelli, der mit dem Rücken zu ihnen am Fenster stand, und meinte leise: »Das können wir noch nicht sagen, wir haben noch kein genaues Bild. Tut mir leid.«
Sie ging zu Revelli ans Fenster, um sich zu verabschieden. Er stand in Gedanken versunken da und schaute auf den dunklen Balkon hinaus. »Ich möchte mich verabschieden, ich gehe jetzt«, sagte sie, weil ihr nichts Besseres einfiel. Und weil ihr der Satz im Moment, in dem sie ihn aussprach, blöd vorkam, setzte sie hinzu: »Ich glaube, es ist wirklich mein Vater, zu 99 Prozent, falls Ihnen das weiterhilft.«
Revelli ging nicht auf sie ein. »Wo kann ich Sie erreichen, falls ich noch Fragen habe?«, sagte er mit einem vollkommen ausdruckslosen Blick.
Sarah schrieb ihm ihre Funknummer auf eine alte Kinokarte, die sie in ihrem Adressbuch fand. Revelli warf einen Blick auf die Nummer. Dann sah er sie an und fragte fast ein bisschen verlegen: »Können Sie sich ausweisen?«
Sie gab ihm ihren Personalausweis. Er streifte den Ausweis mit einem routinierten Blick und gab ihn ihr zurück. »Römer, ist das der Name ihrer Mutter?«
»Ja.«
»Wie lange bleiben Sie in Zürich?«
»Ich fahre heute noch zurück, nach Eriz. Das ist ein kleiner Ort in der Nähe von Interlaken. Ich mache dort ein paar Wochen Ferien.«
»Richten Sie sich darauf ein, dass Sie noch einmal zu mir ins Kommissariat kommen müssen. Es kann sehr leicht sein, dass wir noch ein paar Fragen haben.«
»Kein Problem, rufen Sie mich einfach an.«
»Danke, das werde ich tun, aber ich hoffe es ist nicht nötig.«
Sarah verließ das Hotel und ging ein paar Schritte am See entlang. Sie holte ihr Handy aus der Tasche und schaute auf die Uhr. Ihr blieben noch zwei Stunden Zeit, bis Antje sie wieder beim Café Select aufsammeln wollte. Einen Moment dachte sie daran, sie anzurufen und ihr zu erzählen, was geschehen war, aber sie hatte irgendwie keine Lust, jetzt mit Antje zu reden, und beschloss, einen Spaziergang durch die Stadt zu machen, um wieder zu sich zu finden.
* * *
Mark fuhr die breite Rolltreppe hinunter, die vom ersten Stock ins Entree von Gene Design Technologies führte, und ging mit schnellen Schritten auf die beiden großen Drehtüren zu, die ins Freie führten. Zwischen den beiden Türen stand bewegungslos ein Wachmann. In seiner frisch geplätteten Uniform wirkte er so leblos und zugleich lebensecht wie eine Wachsfigur. Als Mark an ihm vorbeihuschte, bewegte er keine Miene. Zeichen dafür, dass er ihn kannte und als völlig gefahrlos einstufte.
Ungeduldig tänzelnd wartete Mark, bis die gigantische Drehtür in wieder frei gab. Sobald der Spalt nach draußen breit genug war, schlüpfte er hinaus in die anbrechende Dämmerung.
Die plötzliche Hitze des Sommerabends ließ den Schweiß aus seinen Poren quellen, als er hastig die Straße überquerte und mit schnellen Schritten zur Straßenbahnhaltestelle eilte. Erst jetzt warf er einen Blick zurück auf das riesige gläserne Gebäude, in dem GDT residierte, und spürte einen Hauch von Erleichterung.
Er war
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