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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilly Lindner
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guten Selbstmordbuch.
    Dann lande ich im Suizid-Hilfe-Therapiezentrum. Natürlich. Sogar meine Eltern kriegen es mit, wenn ich vollgepumpt mit Tabletten um zwei Uhr nachts durch die Wohnung sause und wirres Zeug flüstere, weil ich zu geschockt bin, dass ich immer noch am Leben bin – dabei hatte ich mich doch so schön verabschiedet.
    »Ich bin nicht krank!«, sage ich, damit meine Mutter sich freut. »Ich hatte nur Appetit auf Tabletten.«
    Sie guckt mich wütend an.
    »Was ist?«, frage ich.
    »Du bist genau wie ich!«, sagt sie schließlich.
    »Niemals!«, sage ich. »So schrecklich kann ich gar nicht sein.«
     
    Von diesem Zeitpunkt an muss ich dreimal die Woche zur Therapie in der Anti-Selbstmord-Vereinigung. Es fühlt sich an wie bei den Teletubbies. Bunt und grell. Die Sätze wiederholen sich, und alle tanzen im Kreis um eine künstliche Lichtung herum. Jede Sekunde wird mit so vielen positiven Gedanken ausgefüllt, dass ich vor Kopfschmerzen vergesse, wie leicht es ist, das Fenster aufzureißen und einfach davonzufliegen.
    Bis auf den Asphalt.
    Den Untergrund.
    Ich bin siebzehn Jahre alt, von der Schule befreit und als noble Nachwirkung meiner Tablettenorgie habe ich auch noch riesige Pupillen und einen verätzten Hals. Also ernähre ich mich nur von Joghurts und Tütensuppen, krächze wie der Rabe von Siebenstein und komme zu dem Schluss, dass eine Packung Antidepressiva genau die richtige Tagesdosis für mich ist.
    Meine neue Therapeutin ist ganz okay. Ich weiß, ohne das »ganz« würde der vorangehende Satz netter klingen. Aber so okay ist sie dann doch wieder nicht. Außerdem hat mein bester Freund Chase einmal zu mir gesagt: »Wie krank muss man eigentlich sein, um Psychologe zu werden? Überleg doch mal, auf so was kommt man nur, wenn man selbst total den Schaden hat! Oder wenn man sich auf den Schaden von anderen einen runterholen kann. Alles andere wäre verschwendete Zeit. Ich meine, was soll das, niemand wacht eines Morgens auf und denkt sich: ›Ich will den armen kranken Menschen helfen, die nicht mehr ganz dicht im Kopf sind, ich will in ihren Seelen herumwurschteln und dafür sorgen, dass alles besser wird.‹ So sind Menschen nicht.«
    Aber immerhin versteht meine Therapeutin eines sofort: Mit meinen Eltern kann man keine Familientherapie starten, und um meines Seelenfriedens willen sollte ich so schnell wie möglich ausziehen. In dem Moment, in dem sie mir das sagt, verzeihe ich ihr voll und ganz, dass sie Psychologie studiert hat. Und während sie schließlich mit meinen Eltern redet und sich um die Kostenübernahmeverträge mit dem Jugendamt kümmert, surfe ich im Internet herum, finde eine gemütliche Einzimmerwohnung in einem schönen Altbau, und einige Wochen später bin ich auch schon dort eingezogen.
     
    Stell dir vor, wie das ist, wenn du in einem Keller gelebt hast, der kein Keller war, aber du hast trotzdem diesen Geruch in der Nase gehabt, staubig, modrig und voll von vergangenen Zeiten. Um dich herum standen uralte Kisten, mit schweren Deckeln und Vorhängeschlössern, und du brauchtest sie nicht zu öffnen, du wusstest auch so, dass sie mit mottenzerfressenen Samtvorhängen und verblichenen Gewändern gefüllt waren. Das Licht um dich herum war immer düster und alt, du konntest eine Hand ausstrecken und den Staub auf deiner Handfläche tanzen sehen, und die winzige Dachluke über dir war so verschmutzt, dass du den Himmel nicht erkennen konntest und auch keine Sterne.
    Stell dir vor, du hättest vergessen, wie es war, Sonnenlicht auf deiner Haut oder einen frischen Windhauch in deinem Nacken kitzeln zu spüren; etwas anderes zu berühren, außer dem grauen Steinboden, den Backsteinwänden, den Spinnenweben und den Staubflocken.
    Aber plötzlich, eines Tages, wird die Wand neben dir zerrissen, von einer unglaublichen Kraft, und Sonnenlicht bricht wie eine Flut über dich herein. Du blinzelst, du zuckst zusammen, das Licht brennt im ersten Moment wie tausend Brennnesselstiche auf deiner Haut. Du setzt dich langsam auf, legst wie zum Schutz eine Hand auf dein pochendes Herz und siehst fassungslos in die Freiheit, die auf einmal vor dir liegt.
    Genauso fühle ich mich.
    Nicht.
    Aber Übertreibungen sind immer nützlich, wenn man jemandem klarmachen will, wie Licht schmeckt und wie hässlich graue Tapeten mit Blümchenmuster sind.
     
    Ich stehe inmitten meiner neuen Wohnung. Meiner eigenen Wohnung. Sie riecht nach frisch gestrichenen Wänden und Reinigungsmitteln. Um mich herum

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